Schau-Prozesse 1
Blickstrukturen im Politischen.

von Peter Grabher

Seit Oktober letzten Jahres läuft im Votiv Kino allmonatlich
sogenanntes PolitiKino, Filme und Gespräche zur Produktion des
Politischen in Bildern, Wörtern, Tönen... Hier Streiflichter auf
lichtscheue Positionen und einige im sonntagnachmittäglichen Dunkel
verlorene Diskursmaschen...

"Es hat den Anschein, als lebte das moderne politische Kino nicht mehr
wie das klassische von der Möglichkeit von Evolution und Revolution,
sondern von Unmöglichkeiten, oder (..) vom Unerträglichen."
G. Deleuze, Zeitbild

Kaum ein Bild, das die Leidenschaften der KinozuschauerInnen
anschaulicher werden läßt, als die erschrocken vors Gesicht gepressten
Hände, durch deren gespreizte Finger gierige Blicke das Unerträgliche
der Leinwand erheischen; so als kompensierte die das Gesicht
schützende Hand die Scham der schauenden Augen. Möglich, dass
BewohnerInnen der westlichen Hemisphäre, traktiert von ihrer Kultur,
geübt wurden Filme zu mögen, die gewalttätig auf sie einschlagen.
Derart zugerichtet nährt sich der materielle Stoff des Erblickten von
der Lust am Wegschauen, und ganze Kontinente entschwinden dem Blick.
Wie Landschaftsnamen in geographischen Karten, deren weitschweifig
über die Länder gestreuten Buchstaben übersehen werden, taucht das
krasse Fehlen von Produktionen von ausserhalb des
europäisch-nordamerikanischen symbolischen Universums im Reden über
Film kaum je auf (1). Das so unsichtbar gemachte kehrt als
Selbstverständlichstes wieder: Unbekanntes leistet die besten Dienste,
indem es sich widerstandslos in jedes gewünschte Argument verwandelt.
Tatsächliche Bilder in ihrer eigenen Sprödigkeit stören da blos. So
mokierte sich der Falter beispielsweise anlässlich der von Catherine
David für den Steirischen Herbst 96 programmierten Filmreihe darüber,
dass sowenig ihm Bekanntes - will sagen: Hollywoodproduktionen - zu
sehen seien (2).

Blinde Flecken im globalisierten Blick

Die "Globalisierung des Blicks" produziert permanent ihre eigenen
blinden Flecken. Im panoptischen Blick, den die frühen
jahrmärktlichen Bildmachinationen den Gefängniswärtern des 19.
Jahrhunderts entwendeten, regierte der Ort des Schauens über den
Blick. In den Kaiserpanoramen drehte sich nach einem Klingelzeichen der
Bildkreis der Apparatur und Kinder und Verliebte, die dasselbe Bild
weiteransehen wollten, mussten einen Platz weiterrücken. Seitdem sucht
die abgedunkelte Weichheit saturierter Kinos uns immerschon unsere
Hintern beim Schauen vergessen zu machen, um uns im Überangebot der
Identifikationen alert in neue Rollen schlüpfen zu heissen. Bisher
fehlte diesem Projekt, was neuerdings die Idee der Globalisierung dem
Blick unterjubeln will: die Illusion eines globalen, sprüngelosen und
kontinuierlichen optischen Feldes, das die strukturelle Identität der
Schau-Prozesse aller Kontinente garantiert - auf dass im sich
verfinsternden Sozialen keine Erinnerungen ans Feuer (3) stören.

PolitiKino will kinematographische Strategien debattieren, Irrlichter
im Lebenselend der kapitalistischen Gesellschaftsform aufstecken,
dessen alltägliche Unerträglichkeit im Gegensatz zur entrückten
Maskerade des Schreckens, des Horrors, der Gemetzel oder Untoten sich
nicht gewinnbringend vermarkten lässt.

Die Dokumentation Manufacturing Consent (4) über Noam Chomsky zeigt
den wohl berühmtesten anarchistischen Universätsprofessor
Nordamerikas als monomanischen Archivar des US-imperialen Unwesens von
Guatemala bis Ost-Timor. Besessen davon, der Herrschaft in ihrer
eigenen Sprache zu sagen, was sie verschweigt, verlässt er den Rahmen
aufklärerischer Bildungsrhetorik nicht. Fragen nach libidinaler
Besetzung und Funktion der Mythen, die die USA über sich erzählen,
vermag er nicht zu stellen. So ergibt sich ein tendentiell starres
System undialektischer Oppositionen: Mytheme mutieren zur
Desinformation im Dienst einer Macht, die ihre eigene Herkunft
verschleiert.

Tribulation 99 - Alien Anomalies Under America (5) dagegen, der eine
schreckliche Geschichte bösartiger mittelamerikanischer
Qützal-Monster erzählt, die die freie Welt bedrohen, nimmt die
modernen Märchen Nordamerikas ernst, und montiert sie zu Sätzen eines
weltverschwörerischen Sprachdurchfalls, indem Tonnen von Bildermüll
maschinisiert werden. Das paranoide, pseudo-dokumentarische Verfahren
des Filmes driftet planmässig "out of the official consensus reality"
(Craig Baldwin), und vermag so die Struktur des rassistischen Irrsinns
offenzulegen. Baldwins Angriff aufs "Herz der Bestie" besteht nicht in
positivem Fabulieren von künftiger Befreiung (Chomsky), sondern in
negativ-ironischem Gebrauch aggressiver, herrschender Fabula, was
einiges am Geschäft mit dem nicht-alltäglichen Schrecken transparent
werden lässt.

Die Erzählungen in Senderos (6), den Pfaden der Politisierung eines
guatemaltekischen Indigenas folgend, artikulieren die Dialektik des
Engagements: privates Versagen ist politische Geworfenheit und kann nur
im gemeinsamen Kampf aufgehoben werden. Der konsequente Entschluss zu
kollektiver Produktion und damit die Überantwortung der kreativen
Entscheidungen an sozietäre Prozesse (7) dezentriert die Linearität
der Geschichten, führt bald zur tendenziellen Aufhebung der Narration
zugunsten der Dokumentation, und scheint ausserdem den Bildern ihre
eigentümliche Kraft zu geben (8).

In La Nacion Clandestina (9) durchwandert der Sargtischler Sebastian
sein gescheitertes Leben zwischen Aymara-Comunidad und kapitalisierter
Urbanität. In langen Plansequenzen entwickelt sich durch die
selbstverständliche Parallelführung verschiedenster Zeitlichkeiten
eine radikal andere Subjektivität: Hier betreiben präkolumbianische
Denkfiguren die Strukuren eines technischen Produkts abseits von
Mystizismen! Gemacht für ein lateinamerikanisches Publikum, kümmert
sich der Film nicht um westliche Sehgewohnheiten, und lässt deren
globalisierte Illusion an ihm zerbrechen (10). Die Geschichte der 1952
begründeten "Grupo Ukamau" ist die einer fast ebensolangen Verfolgung,
der mehrere Menschen und Filme zum Opfer fielen. Seit dem
Militärputsch in Bolivien 73-74 arbeitet die Gruppe im Exil, immer
bemüht um die Distribution und die kollektive Debatte ihrer Filme.

In Clando (11) emigriert ein politisch verfolgter illegaler
Taxifahrer von Kamerun nach Köln. Teno, der selbst in Paris lebt,
arbeitet sich nicht am Rassismus der Europäer ab, sondern erklärt
Wunschpositionen, die sich am Reichtum Europas entzündet haben aus
afrikanischer Perspektive. So tritt er der gutmeinenden Aufklärerei,
die mit Rassismus qua Einsicht abfahren will entgegen: Über zarte
Philanthropie hinaus bleibt die ökonomische Ungleichheit bestehen.
Clando will dem Unerträglichen ein Sprechen entreissen, das nicht zum
Schweigen zu bringen wäre, und möchte dieses Fabulieren in der
Sprache des etablierten europäischen Kinos vollbringen.

PolitiKino zeigt in den kinematographischen Strategien minoritärer,
widerständiger und-oder kollektiver Produktionen, daß Schau-Prozesse
historisch durchaus kontingent und umbaubar sind, und arbeitet an gegen
das Phlegma der Sehgewohnheiten, die nicht anschauen wollen, was
ungleich ist. Dank der ReferentInnen sah die filmische Artikulation den
Blick immer wieder auf die Rede "zu Ehren der tatsächlichen Ereignisse"
(Godard) zurückgeworfen, die Film als Produkt von Geschichte, Politik
und Produktionsverhältnissen lesbar macht.


kinoki


(1) Analog dazu erzählen sich die modernisierten Internet-Bürger das
Märchen ihres allumfassenden Netzes, durch dessen lose Maschen ihnen
doch mehr als 4/5 der Welt entschlüpft.
(2) Ähnlich die Konzeption der Reihe film(subject)theory, die
versuchte Film-Theorie der 90er zu resümieren und - in zynischem Sinn
konsequent - neben einigen Exemplaren des europäischen Autorenkinos
ausschließlich US-Mainstream-Produktionen auswählte.
(3) So der Titel einer dreibändigen Geschichtensammlung
fünfhundertjähriger lateinamerikanischer Widerständigkeit von
Eduardo Galeano.
(4) USA 1992, Regie: Mark Achbar/Peter Wintonick, Produktion: Necessary
Illusions
(5) USA 1991, Regie: Craig Baldwin, Produktion: Craig Baldwin
(6) A 1989, Regie: Leo Gabriel/Michael Vetter, Produktion: Filmladen
(7) Üblicherweise ist Film sonst das, wo auch Linke autoritär werden
und zwischen Director und Untergebenen säuberlich trennen.
(8) Symptomatisch des Falters Urteil über Senderos, der - als eine
der wenigen europäischer Produktionen bei indigenen Film-Festivals
ausgezeichnet - von den Herren der reinen Selbstbezüglichkeit
lakonisch als "Niederlage" erkannt ward.
(9) Bolivien 1989, Regie: Jorge Sanjines, Produktion: Grupo Ukamau
(10) Wofür ihn die europäische Kritk als "hoffnungslos
unterentwickelt" beschimpft.
(11) Kamerun/Frankreich 1995. Regie: Jean Marie Teno, Produktion: Les
Films du Raphia