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Reflexion

Höhere Optik

aus Herbert Hrachovec: Drehorte. Arbeiten zu Filmen

[0] Ohne den abrupten Rückschlag aus alltäglichen Situationen, dem menschliche Verrichtungen hin und wieder unterliegen, gäbe es Philosophie nicht. Wie die meisten Kulturprodukte präsentiert sie sich gerne mittels einfacher, deutlich identifizierbarer Kennzeichen. "Reflexion" ist eines, das den Rückschlag ausschmückt. Der Ausdruck bezieht sich in pointierter Überblendung auf einen physikalischen Vorgang und ein Abstandnehmen im Bewußtsein, dessen Verbildlichung die Optik liefert. Wörtlichkeit und Metaphorik sind dabei nur schlecht zu trennen. Dem Lichtstrahl entspricht die Zielrichtung innerer Aufmerksamkeit; beide werden unter Umständen von Dingen der Welt auf ihre Ausgangspunkte zurückgeworfen. Unversehens geraten die Lichtquellen statt der anvisierten Gegenstände in den Blickpunkt. Die Verquickung von Natur- und Selbstbeobachtung in dieser beschreibenden Konstruktion gehört zu den folgenreichsten Schachzügen der Denkgeschichte, wenn auch die Meinungen über ihre sachliche Berechtigung weit auseinandergehen.1 Die Debatte über das auf sich selbst zurückgewendete Subjekt steht im Zentrum der neuzeitlichen Philosophie. Ihr Fußpunkt in der Optik suggeriert eine Beziehung zur Theorie von Photo und Film.

[1] Das Territorium ist unwegsam vor lauter Wegen. Angesichts der ins Zwielicht geratenen Spekulationen über integeres Selbstbewußtsein lohnt es, die Überblendung der beiden Refraktionsstrukturen sorgfältig auseinanderzulegen. Die doppelte Gefahr besteht darin, philosophischen Jargon als Tiefe zu nehmen und andererseits, die Suggestion profunder Bedeutung einfach wegzuwischen. Mein Vorschlag hier ist, ihre Attraktivität zu verfolgen: ihr nachzuspüren, sie einholen zu wollen. Das Phänomen nicht an der Wurzel fassen, sondern den Verzweigungen nachgehen, die es von Anfang an charakterisieren. Die Fusion von Optik und Bewußtseinstheorie ist ein immer noch verführerisches Risiko, keine Kontamination, die nur zu Mißverständnis führen kann. Parallelen aus dem faktischen Sehbereich nachzuziehen, macht vorsichtig gegenüber Abhandlungen, welche die wunderbare Reflexionskraft des menschlichen Geistes hervorheben. Das Korrektiv ist aber nicht nur zur Entmythologisierung gut. Es dient auch dazu, klassische Philosophie und Fototechnik miteinander zu konfrontieren.

[2] Beginnen wir beim Schwierigsten, bei der erkenntnistheoretischen Umsetzung des Zurückgeworfenwerdens. Sie ist zumindest dreistufig. Erstens ist Reflexion ein empirisch-visueller Vorgang, der zweitens ein Bild für unsichtbare Aktivitäten des Bewußtseins bietet, die drittens dafür verantwortlich gemacht werden, daß so etwas wie Welt für Menschen überhaupt sichtbar wird. (Gegenstände ohne Bewußtsein haben keine Welt.) In dieser theoretischen Aufgliederung ist "sehen" nicht bloß ein Naturprozeß, sondern darüber hinaus eine Tätigkeit, die uns überhaupt erst zu dem werden läßt, was wir sind. Der Reflexionsbegriff macht einen wesentlichen Unterschied, das wird so begründet: weil Menschen in Distanz zu optischen Verläufen stehen und darin auf sich selbst zurückkommen, wie umgelenkte Strahlen, genügt es nicht, sie zur Natur zu zählen. Was sie sich vorgestellt haben, kann auch als Wand fungieren, an der die Vorstellungstätigkeit sich reflektiert.2 Dieser Gedankengang hängt daran, daß eine Experimentalanordnung mit Lichtstrahlen zum Leitmotiv der Selbstdeutung von Menschen wird. Wenn man das Modell einer Kamera zur Hilfe nimmt, klingt das Ganze etwas übersichtlicher.

[3] Fotografische Aufnahmegeräte sind gebaut, um von Objekten reflektierte Lichtstrahlen gebündelt auf ein sensitives Medium zu lenken. In einer Hinsicht sind sie eine optische Vorkehrung wie Linsen zum Feuermachen oder Spiegelkabinette. Doch eine Eigenart ihrer Konstruktion eignet sich speziell zur metaphorischen Verwendung. Von außen fällt Licht in einen Innenraum. Fotochemisch betrachtet handelt es sich um Reflexions- und Aufzeichnungsvorgänge, die durch die Vorgaben des Apparats gesteuert werden. Vom Standpunkt der Bewußtseinstheorie ist ein anderer Aspekt von Interesse. Hier überlagern sich technische und erkenntnistheoretische Aspekte. Die Ausbreitung elektromagnetischer Schwingungen im All ließe sich nicht (in Teilen) als Licht und Reflexion beschreiben, gäbe es keine Lebewesen, die bestimmte Wellenlängen auf sehr bemerkenswerte Weise rezipieren. Nicht bloß als Wärme, sondern durch die Augen und als Information über die Umwelt. Zum Begriff dieser Lebewesen gehört nun aber, daß sie als Rezipienten nicht einfach an kausalen Ketten hängen, sondern die Wahrnehmung im Spielraum eines abgesetzten Verhaltens wirksam werden lassen. Diese Sichtweise folgt aus dem erkenntnistheoretischen Basisentwurf. Die dunkle Kammer, in der der Film belichtet wird, ist ein praktisches Bild für "das Innere", in dem die Wahrnehmung sich ausbreitet. "Das Auge der Kamera" ist eine Öffnung, die einerseits der Reflexion im naturalistischen Sinn Eingang gewährt, andererseits als Metapher die anfangs angesprochene Überblendung nachvollzieht. Die Wirkung geht in beide Richtungen: das Wahrnehmungsvermögen wird mit Hilfe der technischen Vorrichtung illustriert, aber auch umgekehrt die Vorrichtung durch das Vermögen.

[4] Kameras pointieren die Aussicht und den Ärger mit der Reflexion. Die Kammer, in der ihre Abbildungen zustande kommen, läßt sich als Bild jener Räumlichkeit nehmen, die wir zum blanken Reflexionsvorgang hinzutun müssen, um Sinnlichkeit denken zu können. (Von Sinnlichkeit kann nicht gesprochen werden, ohne ein Innenleben des betreffenden Organismus anzusetzen.) Doch an der Frage, wie maßgeblich das Bild ist, scheiden sich die Geister. Nach offizieller Lehre handelt es sich nur um ein Hilfsmittel, das an die Sache nicht heranreicht. Die Innereien eines Fotoapparates können keineswegs erklären, was die gelebte Distanz zur Eingebundenheit in die Natur ausmacht. Die Redeweise der Erkenntnistheorie berührt sich nach dieser Auffassung nur oberflächlich mit jener der Fotomechanik. Die Gegenposition zieht die Grenze nicht so scharf. Sie hebt hervor, daß Einsicht in das menschliche Innenleben sich notgedrungen an externen Modellen orientiert. Der Verlauf des abgelenkten Lichtstrahls und die Vorgänge im Fotoapparat sind bedeutend zugänglicher, als die mentalen Aktivitäten, zu deren Verdeutlichung sie dienen sollen. "Bilder im Kopf haben" ist ein abgeleiteter Ausdruck, nicht die Bezeichnung einer psychischen Kapazität von prinzipiellem Wert. Erkenntnistheorie ist dieser Auffassung entsprechend unserer optischen Erfahrung nachträglich aufgesetzt.

[5] Die Gegenüberstellung der Verständnisweisen von "Reflexion" führt schnurstracks in eines der umstrittensten Gebiete theoretischer Philosophie.3 Dennoch war dieser kurze Abriß nötig, um nicht in den Floskeln steckenzubleiben, die sich um die Analogie gebildet haben. Es ist nicht schwer, zur Auflockerung erkenntnistheoretischer Argumentationen einen Seitenblick auf die Kameratechnik zu werfen oder deren Produktionen umgekehrt durch anthropomorphe Beschreibungen aufzuwerten. ("Der Blick der Kamera ist unbestechlich.") Viel heikler ist die Aufgabe, den Eigensinn der genannten Schichten miteinander zu konfrontieren. Dabei stellt sich heraus, daß Optik, Bewußtsein und Erkenntnisermöglichung kein selbstverständliches Ganzes bilden. Um die drei Faktoren sinnreich ineinander zu verschachteln, bedurfte es einer über Jahrhunderte hinweg höchst einflußreichen Theorie. Ich werde mich des Phänomens "Film" bedienen, um ihre Ordnung zu durchkreuzen. Das Ziel ist nicht, sie auszulöschen, dazu scheint mir der Stufenbau zu genial erdacht. Außerdem wird sich zeigen, daß die Filmtheorie ihrerseits Anleihen von ihr in Anspruch nimmt. Aber als unumstritten kann er nicht mehr gelten. Zu deutlich ist die Einsicht, daß die spekulative Umsetzung der optischen Beobachtungen nicht frei und geschichtslos im Raum schwebt. Sie soll, mit Vorsicht, auf den Boden der Tatsachen gestellt werden. Ein Weg ist, sich auf die Vielfältigkeit der Verwendungen von "Reflexion" einzulassen.

Das Gefilmte, das Filmen

[6] Gewöhnlich wird der Ausdruck "Reflexion" nicht von vornherein so komplex eingeführt, wie es hier geschehen ist. Dziga Vertov filmt die auf einem Auto befestigte Kamera, die den Stadtverkehr aufnimmt, den er in "Der Mann mit der Kamera" zeigt. Jean-Luc Godard verwendet als Vorspann zu "Die Verachtung" eine Szene, die darstellt, wie er diesen Film dreht. In "Lightning over Water" von Wim Wenders ist zum Schluß, als die Trauer-Dschunke in Richtung offenes Meer fährt, an ihrem Bug die Filmkamera montiert. Das nennt man Reflexion des Filmemachens. Die Beispiele lassen sich variieren. Hitchcock, der in kurzen, unmotivierten Momenten in seinen Filmen als Passant auftritt, oder Fellinis "8 1/2", ein Film über sich selbst, sind Spielformen cinematografisch umgesetzter Reflexion. Die Technik, sich im Medium auf die Produktion des Mediums zu beziehen, ist mittlerweile auch im Gebrauchs- und Werbefilm gut eingeführt. Ich bleibe in diesem Kapitel aber bei Kunstfilmen, die sich des Drehs zuerst bedient haben. An ihnen läßt sich der Bedeutungstransfer zwischen dem erkenntnistheoretischen Topos und der Kinopraxis in akademischer Muße studieren.

[7] Selbstbeziehung ist nicht als Selbstzweck so lange im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden. Sie gibt eine Struktur vor, in der sich Hinblick auf Sachen und Hinblick als Sache ineinanderschieben. Das ist eine direkte Konsequenz aus dem Grundmuster des Strahls, der auf eine Fläche trifft, in die Herkunftsrichtung zurückgeworfen wird, und damit zuletzt die Aufmerksamkeit auf den ganzen Prozeß lenkt. Genau diese Multidirektionalität machen sich Vertov, Godard und Wenders zunutze. Sie applizieren auf den Film, was über das Subjekt gelehrt wurde, nämlich daß das äußere und innere Ich einander wechselseitig die Bälle zuspielen . Änlich in den genannten Beispielen. Die Filmaufnahme ist Gegenstand von Filmaufnahmen, die sie für uns präsentieren. Anfangs ist diese rückbezügliche Struktur hauptsächlich zum Aufbrechen des Industriestandards verwendet worden. Subjektphilosophie und Kunstfilm gleichen einander im Abstand, den sie zwischen die fesselnde Zuwendung zur Welt und die Sonderstellung reservierter Distanz legen. Analog ist auch der Zweck der Übung, nämlich die Öffnung eines Reflexionsspielraums, in dem die Naturgebundenheit virtualisiert und Phantasie für die Weltdarstellung produktiv gemacht werden kann. Soweit paßt die Struktur auf beide Unternehmungen. Die Differenzen zeigen sich bei näherem Hinsehen.

[8] Der Reflexivität hat man neuerdings vorgeworfen, sie täte so, als ob im Raum, den die Umlenkung der Richtung definiert, der volle Durchblick herrsche. Schließlich sei es dasselbe Ich, das an der Welt hängt und sich ihr gegenüber reserviert verhält. Wie dem auch sei, umgesetzt auf Filmapparate ist das nicht aufrecht zu erhalten. Daß die Kamera sich selbst aufnimmt, klingt interessanter, als es tatsächlich ist. Gewöhnlich ist einfach gemeint, daß eine Kamera eine andere "bei der Arbeit" filmt. Selbst wo durch Spiegelung die tatsächlich filmende Kamera als ein Objekt auf ihrem Film zu identifizieren ist, fallen die beiden keineswegs umstandslos zusammen. So ein Vorgang ergibt zwar eine Abbildung, aus der das Aussehen und die Position des Aufnahmegerätes zu entnehmen ist, verfehlt aber den Prozeß, der es zum Aufnahmegerät macht. Die Konstruktion des Fotoapparates erlaubt es nicht, Reflexivität als eine Form der Identifikation von Gegenstand und Abstandnehmen zu denken.

[9] Das war aber gerade Glanz und Elend der Bewußtseinstheorie. Subjekte sollten sich als Synthese von Objekten und Objektbezug konstituieren. Das hört sich im Hinblick auf Optik reichlich überzogen an. Konventionelle Filmaufnahmen sind nicht anders möglich, als so, daß in die dunkle Kammer Oberflächenspiegelung eindringt. Reflexion in der zweiten vorhin angedeuteten Ausprägung ist im ersten Sinn nicht sichtbar. Dem widerspricht nicht, daß die Abläufe innerhalb eines Aufnahmegeräts (sogar mit filmischen Mitteln) sichtbar gemacht werden können. Ein solcher Schachzug bringt das Geschehen kunstvoll auf die erste Stufe zurück. Kameras sind dann technische Vorrichtungen wie Dieselmotoren oder Mikrochips. Mit dieser Begradigung geht gerade der Effekt verloren, auf den die Bewußtseinstheorie aufbaut: die systematisch auswertbare prinzipielle Unvergleichbarkeit und Koordinierbarkeit von Weltinhalt und Welterzeugung. Genau genommen reicht die Filmtechnik über die erste Stufe des Reflexionsmodells nie hinaus. Warum kann dennoch ohne Schwierigkeit von Film im Film und von Strategien der Selbstbezüglichkeit gesprochen werden?

[10] Die Anleihe geht nicht nur in die Richtung vom Sinnenfälligen zum übertragenen Gebrauch. Umgekehrt ergeben sich auch Möglichkeiten, wenn Filmproduzenten sich am traditionellen Reflexionsdenken orientieren. Dort wird mit einem Qualitätssprung gearbeitet, der viel ausbaufähigere Perspektiven erschließt, als die naturalistische Optik. Visuelle Reize sind nicht alle von derselben Art, sofern darauf geachtet wird, was Menschen in ihnen sehen. Ausgestattet mit den entsprechenden theoretischen Vorgaben sehen wir in projektierten Schatten Personen.4 Das ist die Gegenrichtung zur vorher angesprochenen Begradigung. Auf solchen Kenntnissen beruht das Spiel des Kunstfilms. Jean-Luc Godard in einem Film, der unter seinem Namen verbreitet wird, zu erkennen, ist nicht ganz dasselbe, wie die Beobachtung, daß die Fluchtwege aus "Alphaville" Pariser Autobahnen sind. Die intendierte Mitteilung ist raffinierter. Sie sagt, daß ein Name, der für die Organisation der Bilder steht, auch eine Person bezeichnet, die in ihnen auftauchen kann. Daß ein Prinzip und ein Prinzipal verschmelzen. Trotz der Sperrigkeit des optischen Gerätes gegen Spekulation wird es in diesem Kontext in sie hineingezogen.

[11] Gegeben ist also ein Grundmuster, dessen Anwendungen zwar begrifflich scharf auseinandergehalten werden können, aber unwillkürlich auch interferieren. Philosophische Exkursionen in die Welt des Films können sich davon leiten lassen. Offensichtlich spielt Jean-Luc Godard mit unserer Fähigkeit, Körperwesen und geistige Aktivität auf eine identische Person zu beziehen. Die reflexive Volte dient dazu, die Geradlinigkeit zu unterbrechen, die Filmaufnahmen konventionell bestimmt. Mit dieser Übernahme kommt ein romantisch-idealistisches Moment ins Kino. Die Selbstbezüglichkeit von Filmen als Geste der Durchlöcherung standfester Sichtbarkeiten ist eine Neuauflage der dynamischen Verwicklungen zwischen Ich und Nicht-Ich, dem Ich als einem Ding und einem Nicht-Ding. Ein Vorteil ist, daß sie sich weniger hochgestochen beschreiben läßt. Um beim Godard-Beispiel zu bleiben: im Rahmen eines im Kino gezeigten Produktes tauchen Bilder auf, die Zuseher mit bestimmten Kenntnissen auf den Urheber des Vorgeführten beziehen.

[12] Jean-Luc Godards Auftreten in seinem Film gibt einen Schlüsselreiz und löst eine Kettenreaktion philosophischer Interventionen aus. Der Positivismus des sinnlich Wahrnehmbaren wird als Reduktion durchschaubar, die bei Bedarf durch komplexe, retrospektiv auf die Bedingungen des Sichtbaren gerichtete Deutungsprozesse überstiegen werden kann. Die Pointe dabei ist, daß das bildliche Auftreten des Regisseurs einen im Zusammenhang implizierten Wissensstand aktualisiert und damit die ganze Wahrnehmung erweitert. Die philosophische Mustervorgabe erlaubt es, mehr "zu sehen" als Sichtbares, so wie gewisse Naturphänomene erst nachgewiesen worden sind, nachdem man wußte, wonach zu suchen wäre. Im Filmstreifen sind Informationen mehrfach kodiert, das deckt das Reflexionsbeispiel schlagartig auf. Ein Nachteil ist, daß dieser Schwenk vom Angeschauten zum nicht im gleichen Sinn sichtbaren Anschauen im Film spielerisch umzusetzen, in der Philosophie jedoch ein ausgefahrenes Geleise ist.

[13] Hier stehen die Sprachen der Bewußtseins- und Filmtheorie vor verschiedenen Aufgaben. Die Formel vom "nicht im gleichen Sinn sichtbaren Anschauen" erfüllt nicht dieselben Funktionen. Im ersten Fall führt sie zur Beschreibung geistiger Kapazitäten, im zweiten zu neuen Spielarten dessen, was die leiblichen Augen sehen. Einem Qualitätssprung steht die Ausweitung einer vorhandenen Qualität gegenüber. Nicht alles, was in einer Filmprojektion "zu sehen ist", ist auf dieselbe Weise zugänglich. Das Fort-da-Spiel mit dem Aufnahmegerät macht darauf aufmerksam, daß Filme nicht einfach Spiegel der Wirklichkeit sind. Die Dinge und Ereignisabläufe, die sie präsentieren, sind zugänglich gemacht; Spuren dieser Aktivität finden sich in den Bildern. Daß ein Körper für die Präsenz eines Bewußtseins steht, ist der Extremfall, viel selbstverständlicher ist die schichtenförmige Anreicherung visueller Botschaften. Ein Film zeigt Personen, Gerätschaften, Handlungen, aber auch Kamerabewegungen, Schnitte und Überblendungen. Das Gefilmte kann dazu einladen, sie thematisch zu machen, d. h. sie zu den quasi selbstverständlichen, in der Projektion vorgestellten, Themen hinzuzufügen. Auch wenn es die Puristen des klassischen Subjektdenkens genauso stört, wie jene des unvermittelten Weltkontaktes, gerade darum: irgendwo zwischen dem ontologischen Dualismus und der Homogenität des Datenflusses liegt der entscheidende Punkt.

[14] Man kann schon sagen, daß die Reflexion einen ontologischen Graben aufreißt, aber das ist für den Zugang zu Filmen viel zu dürr. An ihren Inhalten erscheint -- als Leistung der ästhetischen Reflexion -- die Form, die selber Inhalt werden kann. Vom Standardbegriff der Reflexion unterscheidet sich dieser Vorgang dadurch, daß seine Objekte zweiter Stufe buchstäblich sichtbar sind. Ein Gutteil des mit ihnen verbundenen Genusses rührt daher, daß sie ständig der direkten Aufmerksamkeit ausgesetzt und in gewisser Hinsicht auch entzogen sind. Passender als das Auftreten des Autors in seinem Werk ist darum der Vergleich mit Indizien in einem Kriminalroman. Sie liegen vor und müssen trotzdem als Hinweise entziffert werden, insofern unterminieren sie den Glauben daran, daß es ausreicht, einfach hinzuschauen. In philosophischer Reflexion tritt das Subjekt in ein Verhältnis zu seiner Extrovertiertheit, die vergleichbare Strategie im Film multipliziert die Komplexität des Dargestellten. Ich habe schon gesagt, daß sie mittlerweile kommerziell genutzt wird. Das fällt in das Kapitel über die neuen Medien. Einstweilen folge ich der Interessensentwicklung eines traditionell informierten Philosophen in Richtung Film. Die Attraktivität von Filmen, die den Anspruch der Reflexion aufgreifen, läßt sich in einem kleinen Beispiel bündig darstellen.

[15] Ein Dokumentarfilm C. Th. Dreyers präsentiert eine Meeresbrücke in Dänemark ("Glomdalsbruden", 1925). Wie es zu ihr gehört, daß sie, auf festem Land aufruhend, einen Spannungsbogen über das Meer zieht, wird im Film zuerst das Festland gezeigt und dann allmählich, vom Ufer aus langsam in die technische Konstruktion vortastend, die Erstreckung des Bauwerks zwischen Meer und Himmel. Die Korrespondenz ist ziemlich simpel, aber dabei bleibt es nicht. Während des Blicks auf einen am Ufer sitzenden Angler ist schon das Schiff wahrnehmbar, das die Kamera bald darauf besetzt, um eine Ansicht der Brücke zu geben, die auf dem zweiten involvierten Element aufruht. Das Wasser ist nicht zu sehen und man sieht es doch, weil die gezeigten Bauteile im Rhythmus des Wellenschlages schaukeln. Analoges wiederholt sich bei Aufnahmen von einem Flugzeug aus. Auch das hält sich im Konventionellen, die letzte Einstellung faßt das Gezeigte jedoch in pointierter Abfolge zusammen. Das Schiff mit Kamera fährt geradewegs auf die Brücke zu, im Aufnahmefeld ganz vorne erhebt sich der Mast. Während sich das Fahrzeug der Durchfahrt nähert, schwenkt die Kamera entlang des Mastes hoch und erreicht dessen Spitze in dem Moment, in dem es die Brücke passiert. Ein Berührungspunkt, den völlig unterschiedliche Dimensionen konstituieren. Darauf rascher Abwärtsschwenk; das Schiff hat wieder freie Bahn, ein Schatten senkt sich auf den nun alleine sichtbaren Mast, der Film ist zu Ende.

[16] Dreyers Regie zeigt, daß der Regisseur nicht eigens in seinen Filmen auftreten muß, um anzudeuten, daß seine Arbeit in den Bildern steckt. Die Tendenz, visuelle Dokumentation als Fenster in die Landschaft zu nehmen, vereitelt er durch Überkodierung des Filmmaterials. Durch Kamerapositionen und Montage schafft er eine Instanz zwischen seinen Gedanken und der Brücke; die cinematografische Realität des dargestellten Bauwerks.5 Sie bettet Ingenieurstechnik in Filmtechnik ein, die Schnittstelle ist die reflexive Wendung. Es sollte deutlich geworden sein, warum solche Werke Theoretiker anziehen. Sie bieten einen Spielraum, in dem sich Virtualität ausbreitet. Die Fixierung bestimmter Gegenstände wird als Ergebnis einer vorausliegenden Tätigkeit erfahrbar. Philosophie legt Wert darauf, daß Positionen sich nicht in ihrem bloßen Gegebensein erschöpfen. Aber es ist kein Zufall, daß Reflexion eine Hintertüre ins Kino ist. Der Vordereingang, vor dem das Publikum sich sammelt, ist leichter zugänglich. An ihm kommen auch philosophisch Interessierte auf Dauer nicht herum.

Illusion und Entlarvung

[17] Der Hauptgrund, einen Film zu sehen, ist selten der Wunsch, auf sich zurückgeworfen zu werden; die Verständigung über reflektive Praktiken ignoriert einen viel direkteren Zugang. Kinofilme sind mehr als sinnliche Affektionen im Standardsinn der Erkenntnistheorie. Sie fesseln das Publikum und lassen es den Rest der Welt vergessen. Mit diesen Qualitäten wirken sie der theoretischen Anstrengung direkt entgegen. Ihr Angebot ist Selbstverlust. Der sekundären Einschaltung von Distanz geht ein unmittelbarer Sog in das Medium voraus. Béla Balázs beschreibt die verbreitete Erfahrung:

"Durch die ständig wechselnden Einstellungen (Perspektiven) ist dieses Wunder möglich: daß mein Blick (und mit ihm mein Bewußtsein) sich mit den Personen des Filmes identifiziert. Ich sehe das, was sie von ihrem Standpunkt aus sehen. Ich selber habe keinen. Und ist es im Film nicht sehr oft so, daß einer dem anderen in die Augen sieht und doch mir, dem Zuschauer, von der Leinwand herunter ins Auge blickt? Ja, -- denn mein Auge sitzt in der Kamera."6

[18] Diese Reaktion ist phänomenologisch näherliegend als das Spiel mit Spiegelungen. Damit ergibt sich ein Problem, denn die Beschreibungen Balázs' werfen alles das zusammen, was ich gerade auseinanderzuhalten bemüht war. Zu allem Überfluß erfassen sie auch besser, wie die meisten Menschen im Kino reagieren.

[19] Es liegt mir daran, auch in einem Klima des kulturellen Synkretismus daran festzuhalten, daß Philosophie und Kino einander auf weite Strecken fremd sind: z.B. die elaborierte Stufenfolge der Analyse von Erkenntnisprozessen und die Herausforderung des Kurzschlusses der gezielt produzierten und konsumierten "Illusion" des Auges in der Kamera. Darin steckt ein paradigmatischer Konflikt zwischen Mitgerissensein und Besserwissen, Befreiung aus der Beklemmung der eigenen vier Wände und Befreiung aus Einsicht in die dazu eingesetzte Manipulation. Die Aufgabe des Nachdenkens besteht darin, die Illusion, die Balázs beschreibt, zu enttarnen und ihr einen bestimmten Ort in der Ökonomie unserer Welterkenntnis zuzuschreiben. Reflexion als Basis dieser Art von Selbstbesinnung empfiehlt sich oft als Garantie gegen den drohenden Transfer von Menschen in Maschinen. Die Frage ist, was aus dieser Gegenüberstellung zu lernen ist.

[20] Filme nehmen ein, Philosophie ist mißtrauisch. Sie ist dazu gemacht, mit Zweifeln über die Verläßlichkeit gängiger Informationen umzugehen. Stanley Cavell unterstreicht die Unterschiedlichkeit des Auges, das auf Sachverhalte sieht und des "Auges" in der Kamera. Letzteres ist geradezu ein Idealfall von Vertrauensseligkeit und Anlaß für kritische Bestandaufnahme.

"Der Film bietet ein rührendes Bild des Skeptizismus: hier haben wir es nämlich nicht nur mit der plausiblen Möglichkeit, sondern mit der Tatsache zu tun, daß die Realität von unseren normalen Sinnen hingenommen wird, obwohl sie als solche nicht existiert -- schlimmer noch: weil sie nicht existiert, weil man sie nur zu betrachten braucht."7

[21] Das von der Kamera gefangene Auge klebt auch an jenen "Dingen", die der Monteur aus dem Filmaterial macht. Die Kehrseite der Begeisterung ist, daß man einer vorgefertigten Inszenierung auf den Leim geht. Ein Hausmittel dagegen ist Reflexion (in beiden Varianten). Einen Schritt weiter geht der Skeptizismus, der an die Enttäuschung der Begeisterung anknüpft. Er ist der Rückschlag, wenn sich das Weltvertrauen als unfundiert erweist. Wie die Reflexion ist er eine reaktive Bewegung, die als Vorgeschichte Geradlinigkeit nötig hat. Das Verhältnis von Theorie und Film ist in einer solchen Weise aufgebaut.

[22] Aus professioneller Voreingenommenheit habe ich beim Kunstfilm begonnen. Seine Reflexivität unterminiert die Primärerfahrung, von der Balázs spricht. Die scharfe Disjunktion zwischen Gebanntheit und kritischem Subjektstandpunkt ist jedoch als Fundament zu schmal. Der Schlüssel zur philosophischen Erforschung des Kinos liegt in der verschränkten Tatsache, daß Gedanken über Gesehenes nicht aus dem Sichtbaren herausführen müssen. Sie können kunstvoll in ihm selber liegen, d. h. das Illusionsverfahren bietet von sich aus Anlaß, über es hinauszugehen. Wir sehen optische Effekte (Godards Portrait) und sehen darin eine Welt (Godard als Schöpfer). Die visuell-reflexive Erfahrung überbrückt eine Distanz, die unbezwingbar scheint, wenn man sie anspricht. Rätsel funktionieren so: sie unterbrechen vertraute Zusammenhänge und erzeugen dadurch Spannung. Sie muß ausreichend komplex sein, damit die Untersuchung nicht in sterilen Schematismen einrastet. Eine Basis für Philosophie und Filmbesuch bietet das skizzierte Ineinandergreifen von Schaulust und Bedenklichkeit.

[23] Greifbar ist es zum Beispiel in der Hemmung, unmittelbar nach der Vorführung über einen Film zu sprechen.8 Die projizierte Welt und die unverzüglich gegen sie wiederkehrende Realität halten sich für Augenblicke die Waage. Das Gesetz des täglichen Lebens wird durch den Bann der "Höhle" aufgehalten und dennoch ist schon klar, daß es nicht zu verhindern ist. An dieser Schnittstelle fallen die Befangenheiten eben nicht einfach auseinander, sondern entwickeln eine eigene Dynamik: je deutlicher die Analyse sich vom Nachschwingen der Erinnerung trennt, desto deutlicher kann auch sichtbar werden, daß Sehen und Denken niemals auseinanderzureißen sind. Im Kunstfilm sind die Bestandteile so verfügt, daß sich Übergänge anbieten. Das Verhältnis zwischen manifestem Inhalt und Darstellungsstrategie ist nicht hinter einer Fülle von Ablenkungsmanövern versteckt, sondern an der Oberfläche ausgebreitet. Zusätzlich zur Verzauberung des Sehvermögens wird Einblick in die Trickkiste gewährt, nicht aus Spielverderberei, sondern als Variation des Zaubers. Man muß sich in Erinnerung rufen, daß die dazu eingesetzte Technik für den Großteil dieses Jahrhunderts die wirklichkeitsgetreuesten Illusionen produzierte.

[24] Die realistische Magie, mit der das Kino auftrat9, konnten Zeichnungen, Statuen oder Theateraufführungen nicht erreichen. Insofern ist Stanley Cavell auf der richtigen Spur, wenn er darin eine bisher unerhörte Herausforderung für die Erkenntnislehre sieht. Ein Theaterabend ist eine hochsublimierte Veranstaltung, die den Teilnehmern von vornherein eine Menge Kulturinvestition abverlangt. Die Bewegung, die sie da herausreißt, desavouiert die Sinnlichkeit nur am Rande. Anders als im Film, weiß man Theater fast immer, daß es sich um geschminkte Schauspielerinnen handelt. Worten und Gesten, die eine Idealwelt erzeugen, sind solche hinzugefügt, die sie als Konstruktion enthüllen. Die filmische Konstruktion trifft den Sehnerv direkter, dort wo er für gewöhnlich verläßliche Informationen über die uns umgebende Welt liefert. Zwar ist die Guckkasten-Situation womöglich noch ausgeprägter, als auf der Bühne, aber in ihren Grenzen kommt die Wahrnehmung den Vorgaben der Wirklichkeit bedeutend näher. Darum ist die Scheinwelt des Films für den Skeptizismus viel provokanter, als jene des Theaters.

[25] Das Thema Sinnestäuschung hat aus theorie-immanenten Gründen in der Epistemologie immer breiten Raum eingenommen. Bis vor kurzem hat es keine Kunstform eindringlicher aktualisiert als der Film. (Ob die "virtuelle Realität" der Informatiker auf Kunst hinausläuft, ist noch umstritten.) Der epistemologische Ordnungsanspruch verlangt, daß zwischen verläßlichen Sinnesdaten und Illusionen streng getrennt wird. Film paßt sich dagegen dem physiologischen Apparat an, um Abziehbilder der Welt zu produzieren.10 Die rigorose Reaktion, das haben wir gesehen, wäre die Einordnung seiner Effekte unter "schöner Schein". Aber die Annäherung, die hier versucht wird und die Cavell durch seine Diskussion der unwirklichen, plastisch gegenwärtigen Filmwelt vollzieht, verwischt die Grenzen. Die Reflexion baut nicht nur eine Gegenposition zu Fakten auf, sie ist auch in den Fakten selbst zu finden. Das Mißtrauen gegen die Täuschung läßt sich in das Produkt selbst einbauen, die Fixierung und die Unterwanderung treten gemeinsam auf. Was das Subjekt auszeichnete, setzt sich im Kunstfilm weiter fort.

[26] Ich bin dabei, aus Nachweisen von Unvereinbarkeit und Änlichkeiten zwischen philosophischer und optischer Reflexion ein diskursives Netz zu weben. Der Zweck der Übung ist, Fragestellungen des einen Bereiches in den anderen wirken zu lassen, speziell das klassische Thema des Subjekts, das, seiner Sinne mächtig, im Besitz von Bewußtseins ist. Von ihm wurde behauptet, daß es die Welt umso nachhaltiger verbessern könne, je gründlicher es sich seines freien Anteils in ihrer Konstitution versichert. Ebenso können Spielfilme im Reflexionsmodell erläutert und empfohlen werden. Als Beispiele, wie ein menschliches Produkt nicht einfach in die Welt gesetzt wird, sondern auch darauf angelegt ist, zurückzuschnappen und dabei einen Bereich zwischen Naturnotwendigkeit und Kreativität zu eröffnen.

[27] Der europäische Autorenfilm bezog sein Ansehen daher, daß er in einem prototypisch illusionistischen Medium die Wahrheit des Künstlers als Produzenten zur Geltung brachte. Er ist zu gleichen Teilen ein anti-konventionelles und anti-relativistisches Unternehmen: beschränkten Wahrnehmungsrastern entzieht er sich nicht um einer völlig autonomen Darbietung willen, sondern im Interesse einer Rekonstruktion der Entwicklungsbedingungen gesellschaftlich verfaßter Bilder. Eine zeitlang ist das aufgeklärte Selbst gut in ihm aufgehoben gewesen. Seinen Regisseuren ging es nicht darum für oder gegen das Wahre, Gute, Schöne, Stellung zu nehmen, sondern um den Versuch, ohne die Attraktivität solcher Werte ganz aus dem Auge zu verlieren, den Anteil zu visualisieren, den der Zuschauer zu ihrer Konstitution beiträgt.

[28] Das einzige, was davon überzeugen kann, daß Eingenommenheit von suggestiven Sinnesreizen und vorsichtige Überprüfung einander nicht notwendig ausschließen, sind Erfahrungen, in denen der Vorsicht die Affektion entgegenkommt. Dort herrscht ein Einvernehmen, dem zufolge das sichtbar Angebotene verlangt, mit Distanz genossen zu werden. In solchen Fällen muß kritisches Bewußtsein nicht zähneknirschend abdanken. Es pendelt zwischen Selbstbewahrung und Kinoprogramm. Die Doppelbewegung ist keineswegs unparteilich und schon gar nicht ihres Erfolgs gewiß. Gegen die Übermacht der Großstudios und die neuen Möglichkeiten avancierter Technologien ist der "künstlerisch anspruchsvolle Film" nicht mehr als eine Episode, so ähnlich wie das balancierte Subjekt mehr Wunschdenken als Tatbestand. Aber Jean-Luc Godard hat nicht umsonst das Montaigne-Zitat an den Beginn von "Vivre la vie" gestellt: "Man muß sich hingeben, um sich selbst zu bewahren." Das Motto gilt in einem engeren und weiteren Sinn. Einerseits ist es die Devise neuzeitlicher Selbstsicherheit, die es sich leisten kann, Reizen zu unterliegen, denn sie ist stark genug, zu sich zurückzufinden. Das gibt es immer noch, ich werde Filmbeispiele diskutieren. Der Spruch läßt sich andererseits aber experimenteller lesen.

[29] Das Schema selbst, Entäußerung zur Stabilisierung des Subjekts, ist veräußerbar. Ohne das Risiko, den Wahlspruch zu verlieren, ist er nichts wert. "Sein Leben leben" ist eine Bewegung, die nicht darauf zählen kann, bei sich zu bleiben. Das allerdings sieht die prästabilisierte Harmonie zwischen Neugierde und Rückzugsmöglichkeit, wie sie der klassische Kunstfilm praktiziert, nicht vor. Seine Stärke besteht darin, Distanz gegen den Sog der Umstände aufzubauen. Ob ihm das gelingen kann? Überlegungen zum Genrefilm und zu den neuen Medien lassen es unsicher erscheinen. Vielleicht beschäftigen wir uns mit einem Alibi für Intellektuelle. Versuche, durch Brüche in der Handlung den Handwerker durchscheinen zu lassen, sind in der Filmwelt nie so dominant geworden, wie in entsprechenden Entwürfen der Reflexionsphilosophie. Philosophen sind im Kino Quereinsteiger.

Zwischenschritte?

[30] Reflexion läßt sich in keinem Fall beschreiben, ohne daß die Geradlinigkeit eines Zupackens durchbrochen wird. Im einfachsten Fall ist es die Umkehrung des Vorzeichens der Vektorformel, verwickelter ist die philosophische Adaptierung. Der Umschlag trennt Welten; die Konstruktion des Selbstbewußtseins schließt sie in einer hybriden Formation zusammen. In ihr ist vorgezeichnet, was Stanley Cavell als eine besondere Art der Sprachunfähigkeit beschreibt. Im Ausgesprochenen kommt das Aussprechen niemals unter:

"...es scheint, daß ich immer etwas ungesagt lasse; das Sagen selbst ist ausgespart. Mein Problem scheint zu sein, daß die menschliche Existenz metaphysisch unehrlich ist."11

[31] Sie ist durch kein Direktverfahren transparent zu machen. Die "Unehrlichkeit" ist der Preis, der dafür zu zahlen ist, daß im Subjekt Handlung und Vorlage zusammengedacht werden. Analoge Schwierigkeiten macht die Denkfigur im Bereich der Filmaufnahmen. "Die Kamera muß nun, ehrlicherweise, anerkennen, daß sie außerhalb ihrer Welt ist, nicht in der Welt gegenwärtig."12 Der Zwang zur Ehrlichkeit richtet sich gegen die Suggestion, in der Kamera könnte das Auge die Welt berühren. Es gilt, die Überrumpelung abzuwehren; der optische Darstellungsapparat bietet genausowenig Garantie für Weltverbundenheit, wie das Wahrnehmen. Weder ist das reflektierende Ich ein Teil der Dingwelt, noch die Kamera ein Instrument in der von ihr hervorgebrachten Filmumgebung. Es ist Täuschung, anzunehmen, daß man sich wirklich an die Leinwand fesseln lassen kann. So korrekt diese Analysen alle sein mögen, sie hinterlassen einen schalen Beigeschmack. Die Begriffswelt der Erkenntnistheorie reicht nicht, um die Faszination im Kino auszuloten. Zeit, den Betrachtungsrahmen zu erweitern. François Lyotard hat eine breiter angelegte Inventur des Genußhaushalts im Kino unternommen.

[32] Ein Reflexionssubjekt versteht es, die Ströme des Begehrens zu verteilen und sich Genuß aus der Entfremdung der eigenen Tätigkeit zu besorgen. Das ist kunstvoll erdacht, aber alles andere als radikal. Zwei Kräfte schießen über dieses mittlere Maß hinaus. Für Filmtheorie gesagt: entweder das Subjekt sucht sich im Vorgeführten ein Opfer oder es opfert sich der Vorführung. Der Sublimation, daß es auf beiden Seiten selber tätig ist, liegt eine Gewalt zuvor, welche auch die Entwicklungsgeschichte des Ichs kennt. Im Kino ist die kulturgefährdende, ungezügelte Energie öffentlich zugänglich. Mindestens so bedeutend, wie sein Realismus, ist der Voyeurismus, gerade das Gegenteil der scheinbar direkten Einbindung. Voyeure sehen zu, wie anderen etwas geschieht. Sexfilme demonstrieren, darauf weist Lyotard hin, die Lust auf Opfer besonders krass. Pornographie funktioniert nach dem Rezept, daß eine Person dazu erniedrigt wird, im Projizierten ein Sexualobjekt zu sein.13

[33] Was sich das klassische Subjekt antut, wird in Pornos fein säuberlich auf zwei Rollen verteilt. Sie sind nicht urtümlich, aber sie spiegeln einen brachialen Zustand wieder. Die Aufspaltung der subjektiven und objektiven Anteile, die Herrschaft über den fremden Körper, dem der Wille des überlegenen, betrachtend-verfügungsberechtigten Kunden aufgezwungen wird, ist das genaue Gegenteil der Aufklärungsgeschichte. Weil Emanzipation nicht aus unserem Kulturkontext zu entfernen ist, wirkt Pornographie in der Regel regressiv; in die ursprünglichen Abhängigkeiten führt kein direkter Weg zurück. Als Index steht diese "menschen-unwürdige" Produktion trotzdem für ein Bedürfnis, das Reflexion nur teilweise befriedigt. Entsprechend hilflos begegnet ihr das Subjekt der Hochkultur. Es ist nicht gewohnt, so kraß mit seinen Besitzansprüchen konfrontiert zu werden.

[34] Die inverse Maßlosigkeit ist, Opfer sein zu wollen. Statt diesseits des Geschehens zu genießen, in ihm verletzt zu werden. Auch dafür steht nach Lyotard eine cinematische Form, der Experimentalfilm. In ihm setzen sich die Zuseher dem Prozeß der Zerfleischung aus; das reflexive Ende, nicht das gegenständliche, wird der Gewalt von außen unterworfen. Die Pointen dieser Beobachtung faßt Lyotard in eine philosophische Fragestellung neueren Stils:

"Die für unsere Zeit entscheidende Frage, da sie die Inszenierung wie die Sozialisierung (Exszenierung) betrifft, ist folgende: Ist es für eine intensive Lust notwendig, daß das Opfer in Szene tritt? Falls das Opfer der Kunde ist, d.h. wenn nur der Film, der Bildschirm, die Leinwand, der Träger in Szene tritt, vergeuden wir dieses Dispositiv dann an die Intensität der sterilen Entladung?"14

[35] Anders gesagt: Was geschieht mit dem Bedürfnis, von der Sache ergriffen zu werden, statt immer (nur) zuzugreifen. Die Frage ist zentral, weil die Unterhaltungsindustrie der libido gewöhnlich nur das konsumierbare Angebot veräußerter Partialobjekte anbietet. Einschnitte in den eigenen Erfahrungsapparat sind ein Tabu, sie könnten das Konsumverhalten nachhaltig gefährden. In einer weniger polarisierten Gesellschaft stünde der Experimentalfilm nicht so am Rand. Uns aber ist schwer vorstellbar, Genuß nicht auf Kosten von irgend jemandem oder irgend etwas zu erreichen. Dazu werden die Konsumenten ständig als mündige Bürger und die Konsumgüter als Objekte zur Befriedigung ihrer Lust angepriesen. Die Opferrolle, in die ein Zuschauer sich freiwillig begibt, wenn er einen Film aufdecken läßt, wie öd die eingefahrenen Sehmechanismen sind, untergräbt den Bürgerstolz ebenso wie die Objektversessenheit.

[36] Damit sind zwei andere außerhalb des Mainstream liegende Filmtypen angesprochen. Jean-Luc Godards Montaigne-Zitat, man müsse sich hingeben, um sich zu bewahren, paßt freilich nicht zu diesen Spielarten der intensiven Transzendenz. In Lyotards Opposition zwischen entwürdigendem Objekstatus und reizloser Autonomie ist die Stelle einer solchen Vermittlung penibel ausgespart. Der "Tod des Subjekts" beraubt uns derartiger Überlebensstrategien. Mein Beginn war stattdessen das Bewußtsein, ein Forum des Lustempfindens, in dem die Extreme sich eigentümlich verschränken. Es ist als Umschlagplatz der Tätigkeit des Vorstellens in vorgestellte Gegenständlichkeit, als Quelle und Objekt des Genusses konzipiert. Reflexive Filme sind versuchte Antworten auf die Dissoziation illusionärer Selbstvergessenheit und schmerzlicher Ernüchterung. Das hilft wenig, wenn die Idee ein humanistisches Postulat bleibt. Sie muß in ihre Bestandteile zerlegt, geprüft und neuerlich zusammengesetzt werden, wenn sie überzeugen soll. Dazu ist ins Detail zu gehen. Die Filme, die in den beiden nächsten Abschnitten behandelt werden, bieten eine Fülle von Beispielen für die Überzeugungskraft vorgeblich überholter Subjektmythologien. Im ersten, theoretisch gehaltenen, Teil steht das Konzept des Films als einer Synthesis von Selbstvergessenheit und Selbstbewußtsein zur Debatte.

[37] Ob und wie es möglich sei, am Inhalt die Form, am Befehlssatz die Verbindlichkeit, in der Welt das Transzendente zu erfahren, ist immer kontrovers gewesen. Es ist ein Rätsel, mit dem sich vornehmlich die Apologeten der Vernunft im status quo beschäftigten. Bisher habe ich es so dargestellt, als würden die Theoretiker des Subjekts die einzige vernünftige Stellungnahme zum Filmgeschäft vorlegen. Doch die Koppelung von Rationalität und Subjektivität ist keineswegs selbstverständlich. Nicht nur, daß Sex- und Experimentalfilme sie unterwandern, es ist auch nicht gesagt, daß kritisches Bewußtsein das sine qua non der Vernunft ausmacht. Lange bevor die Wahrnehmungsbedingungen im Subjekt zentriert wurden, lokalisierten die Philosophen sie als Urformen in den Dingen selbst. Gemäß der Ideenlehre ist die Welt nach einem Plan geordnet, dessen wir uns angesichts der Erfahrungsgegenstände wieder entsinnen. Mit der Erschütterung des Subjektparadigmas hat diese Betrachtungsweise neuerlich an Einfluß gewonnen. Filmtheoretisch umgesetzt lenkt sie die Aufmerksamkeit auf eine zentrales Thema. Sicher, hinter jedem Filmfaktum steht ein Produzent, auf dessen Aktivität sich sein Zustandekommen zurückführen läßt. Viel einprägsamer sind jedoch die Konventionen, die sich über dessen Rücken hinweg im Produkt durchsetzen. Meistens folgt der Regisseur einer Idee davon, welchen vorausgesetzten Mustern seine Arbeit entsprechen soll. Ihrer Leitfunktion ist nicht Genüge getan, wenn bei der Umleitung begonnen wird. Der Genrefilm, als eine Folge dieser Ordnung, impliziert andere theoretische Vorbedingungen, als der Autorenfilm.

Anmerkungen

1 Siehe etwa Konrad Cramer, Hans Friedrich Fulda, Rolf-Peter Horstmann und Ulrich Pothast (Hrsg.): Theorie der Subjektivität. Dieter Henrich zum 60. Geburtstag. Frankfurt/Main 1990 oder Ralf Konersmann: Vom Risiko der Positivität. Philosophieren nach dem Tod des Subjekts. In: Philosophische Rundschau, Bd. 39 (1992), S. 214-235

2 Eine ausführliche philosophische Kritik dieser Vorstellungen bietet Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt/Main 1981. Siehe dagegen z.B. Charles Taylor: Sources of the Self. Cambridge, Mass. 1990.

3 Eine hilfreiche Exposition ist Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. München 1992. Zur Orientierung auch: Herta Nagl-Docekal und Helmuth Vetter(Hrsgg.): Tod des Subjekts? Wiener Reihe. Themen der Philosophie. Wien 1987.

4 Zwei Versuche, die kompliziertere Lage zu verdeutlichen, habe ich unternommen in: Wehrmut. Odysseus und die deutsche Rheinschiffahrt. In H. Hrachovec, W. Pircher and G. Treusch-Dieter (Hrsg.), Denkzettel Antike . Berlin 1989. S.83-93 und Rührseligkeit. Betroffenheit durch Blicke. In R. Weiland and W. Pircher (ed.), Mythen der Rationalität. Denken mit Klaus Heinrich. Wien -- Berlin 1990. S.117-134.

5 Dreyer arbeitet auch in Jeanne d'Arc mit dem Ensemble der Elemente, siehe das Kapitel "Metaphysik und Mi\ss{}handlung".

6 Béla Balázs: Zur Kunstphilosophie des Films. In: Franz-Josef Albersmeier: Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 1979. S. 216

7 Stanley Cavell: Nach der Philosophie. Wien 1989, S. 109f. Genauer geht Cavell auf das Problem des Skeptizismus ein in: The Claim of Reason. Wittgenstein, Skepticism, Morality, and Tragedy. Oxford 1979.

8 Zu diesem Thema: Roland Barthes: En sortant du cinema. In: Le bruissement de la langue. Essais critiques IV. Paris 1984. S. 383ff

9 Dokumentationen dieses Effekts finden sich u.a. in Kurt Pinthus: Das Kinobuch. Zürich 1963 und Jörg Schweinitz: Prolog vor dem Film. Leipzig 1992.

10 Zur Information über die grundlegenden Zusammenhänge siehe Otto-Joachim Grüsser: Zeit und Gehirn. Zeitliche Aspekte der Signalverarbeitung in den Sinnesorganen und im Zentralnervensystem in: "Die Zeit. Dauer und Augenblick". München -- Zürich 1989. Eine Einführung in die experimentalpsychologische Themenstellung bieten Vilayanur S. Ramachandran und Stuart M. Anstis: The Perception of Apparent Motion, in: Scientific American 1986 S. 80ff. "Producers of motion pictures, television programs and even neon signs have long banked on the fact that human beings have a quirk in their visual system. When it is confronted with a rapid series of still images, the mind can 'fill in' the gaps between 'frames' and imagine that it sees an object in continuous motion." S. 80

11 Stanley Cavell: The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film. Enlarged Edition. Cambridge, Mass. 1979, S.126

12 a.a.O. S. 130

13 Mehr dazu im Pasolini gewidmeten Kapitel "Heiligenbilder, Heiligenbildner"

14 Jean-François Lyotard: L'acinéma In: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 42


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$Revision: 35 $ $Date: 1999-12-19 12:56:18 +0000 (Sun, 19 Dec 1999) $