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This text has been submitted as an original contribution to cinetext on January 17, 2009.

„Sein ist Wahrgenommenwerden“: Spätmoderne Erzählstrategie und Epistemologie in Michelangelo Antonionis „Blow-Up“

by Jochen Dubiel

Michelangelo Antonionis neunzehnter Film markiert sowohl für seine Biographie als auch für sein Œuvre eine Zäsur:

Trotz der künstlerischen Erfolge konnte Antonioni seine Position in der italienischen Filmindustrie nicht festigen. Enttäuscht verließ er Italien, um dort erst Ende der siebziger Jahre wieder zu drehen. Für MGM und den Produzenten Carlo Ponti entstand in London Blow-Up (1966). Der Film erhielt den Großen Preis in Cannes und wurde zum ersten und einzigen auch kommerziellen Erfolg. 1

Neben diesen veränderten äußeren Bedingungen hat sich unübersehbar auch ein formaler Wandel vollzogen:

Blow-Up represents a new direction for Antonioni. There is a new language [...] and setting [...]. He employs a new rhythm or pace in his editing; rather than continue the obsessively long takes typical of his trilogy, he now shifts to the fast-paced editing more common to television commercials. And finally, the sound track assumes an importance it never possessed in his other works.2

Peter Brunette stellt darüberhinaus eine bedeutsame inhaltliche Verschiebung fest: „it was completely different from his earlier films, because now he was examining the relationship between an individual and reality, rather than interpersonal relations.“3 Die nachfolgende Betrachtung  impliziert eine Revision dieser These, indem sie der Frage nachgeht, welche hermeneutischen Konsequenzen für das Verhältnis von Individuum, Realität und zwischenmenschlicher Beziehung tatsächlich aus Antonionis formaler Raffinesse der in Blow-Up verfolgten spätmodernen Erzählstrategie resultieren. In dieser Absicht wird zunächst das Verhältnis des Mediums der Photographie zur dargestellten Zeit und die damit einhergehende Konstruktion bzw. Dekonstruktion der Wirklichkeit nachvollzogen, was direkt auf Antonionis epistemologischen Ansatz verweist, der daher im Anschluß zur Erörterung ansteht. Die ohne Rücksicht auf eine unmittelbare Nachvollziehbarkeit der Handlung hervorstechende Symbolik hilft im Gesamtkontext des Films, das von Antonioni vorgestellte Modell der intersubjektiven Wirklichkeitsbildung zu verdeutlichen. Welche Macht die Kamera innerhalb derselben durch ihre Verbildlichung der Umwelt ausübt, wird besonders anhand der visualisierten Verbindung zwischen der Photokamera des Protagonisten und der Filmkamera des Regisseurs sichtbar. Durch die hier vorgeschlagene Lesart von Blow-Up, die erklärtermaßen darauf zielt, aus der Summe der Details qua Rezeption eine semantische Totalität zu rekonstruieren, wird gegen die der nachfolgenden Aussage immanente Zurückhaltung des Lobenden Einspruch erhoben: „Antonioni attempts to make a point not only about the frivolity and mindlessness of the fashion world, but about reality and the imagined in general. Which seems like two comparisons impossible to make in one film, but he is at least passably successful at doing so.“4

Der Held in Blow-Up bewegt sich „durch das von der Popkultur und dem Mode–Glamour geprägte ‚Swinging London‘ der mittsechziger Jahre, durch eine Welt hektisch–schriller Oberflächlichkeit, in der Sein vollständig zu Design geworden ist.“5 Antonionis Präsentation der Stadt evoziert dementsprechend ein von Menschenhand geschaffenes synthetisches Diesseits, denn die „Außenansichten von London sind keine Milieudarstellungen [...], sondern plakative Signale wie aus Foto-Reportagen.“6 Diese den Ort und die Zeit bestimmende Künstlichkeit ist, was sich im Laufe der Betrachtung bestätigen wird, inhaltlich von größter Wichtigkeit und wird von Antonioni entsprechend formal unterstrichen. Augenscheinlich begegnet dem Zuschauer diese den Inhalt fundierende Form in der Scheinidylle des Parks, in welchem Thomas das vermeintliche Liebespaar heimlich photographiert. „Wie schon für Die rote Wüste hat Antonioni auch hier nicht umsonst zu Pinsel und Farbe gegriffen, um die natürliche Umgebung zu verheeren, symbolisch aufzuladen, vor allem – um sie schöner zu machen.“7 Bernd Kiefer fügt ergänzend hinzu: „Für Antonioni ist diese Farbdramaturgie vollkommener Künstlichkeit der neue Realismus einer Welt, in der das Natürliche zusehends verschwindet und die Menschen, die in ihr leben müssen, noch kein neues Sensorium ausgebildet haben, um wirklich in ihr leben zu können.“8 Zur Sensibilisierung eines solchen Sensoriums hat die Kunst, die zu jener Zeit und an jenem Ort auf die nunmehr obsolete Trennung von Künstlichkeit und Natürlichkeit reagierte, jedoch einen entscheidenden Beitrag geleistet. London war neben den USA in den sechziger Jahren die Hochburg der Pop-art, jener Kunstrichtung, welche mittels Isolierung, Ausschnitt und Vergrößerung alltäglicher, von Werbung und Unterhaltungsindustrie vorgegebener Konsumobjekte die Kunst durch die Konfrontation mit moderner Lebenswirklichkeit aus ihrer Isolation zu befreien suchte. Antonioni folgt diesem Prinzip mit Blow-Up, indem er das entscheidende Medium der Zeit, die Photographie, zum zentralen Thema macht, denn eine „Welt, die nur noch schön sein will, ist auf ihre Sichtbarkeit, auf ihre Austellbarkeit als Modus ihrer Existenz angewiesen.“9 Thomas ist insofern auf den ersten Blick die Personifizierung dieser Welt, als „die Fotografien, die er macht, [...] ihm Beweis für seine eigene Existenz [sind]. Er ist abhängig von diesen ‚Zeugnissen‘, weil er in seiner Selbstwahrnehmung unsicher und unbestimmt bleibt.“10 Hinzu kommt, daß seine Kamera das Diktat des Scheins auf Kosten des Seins erheblich mitbestimmt. In Ausübung seines Berufes überträgt sich dieses Diktat sogar auf seine eigene Person: Wenn Thomas zu Beginn des Films zusammen mit anderen aus einem Obdachlosenheim kommt, unterscheidet er sich nicht im Geringsten von seinen offensichtlich notleidenden Begleitern. Erst nachdem er kurz darauf seinen in einer Seitenstraße geparkten Rolls-Royce erreicht, begreift der Zuschauer, daß er genau wie die vermeintlichen Leidensgenossen getäuscht worden ist. „Thus the interrelationship among truth, reality, appearance, and art that will become increasingly important in the film is [...] posited from the beginning.“11 Einerseits wird durch diese Szene die Partizipation des Protagonisten am widersprüchlichen Geist der Zeit bestätigt, anderseits aber aufgrund des durch diese Aktion angestrebten Realismus seiner Arbeit schon darauf hingewiesen, daß es keineswegs in seiner Absicht liegt, Wirklichkeit zu manipulieren.

Thomas‘ Bestreben, mit Hilfe der Kamera nicht nur die verfremdete äußere Welt abzubilden, bzw. diese Verfremdung zu bewirken, sondern vielmehr das Darunterliegende sichtbar zu machen, verdeutlicht Antonioni durch die sich anschließende unmittelbare Gegenüberstellung der inhaltlich scharf kontrastierenden beiden Photoshootings. Seinem ersten Model kann Thomas ein authentisches Lustgefühl entlocken, indem er sich ihr mit seiner Kamera und auch mit seinem Körper wie ein Begehrender nähert, sie sogar mehrmals küßt, bis die ganze Szene einem Liebesakt gleicht. „Aber es ist keine körperliche Lust, die er befriedigen will, es ist die Lust am technisierten Eindringen in die Intimsphäre der anderen.“12

Wie zuvor in der Szene mit den Obdachlosen bleibt auch hier im Streben nach Authentizität die innere Spaltung des Photographen zwischen Sein und Schein bestehen. Kaum ist das Shooting beendet, verliert er jedes Interesse für den Gegenstand seiner Arbeit und läßt sich sichtlich zufrieden und erschöpft auf eine Couch fallen. Die darauffolgende Session bewirkt bei Thomas dagegen alles andere als Zufriedenheit. Seine Models erscheinen in maskenhafter Schminke, die jeden denkbaren Rest von Natürlichkeit verbirgt. Die artifizielle Symmetrie des Arrangements scheint unüberwindlich. Lauthals fordert er sie auf, zu lächeln, was im Kontext der Szenerie nur noch zynisch erscheint. Verärgert gibt er schließlich auf und läßt die Models bezeichnenderweise mit geschlossenen Augen zurück. In diesem Zusammenhang wird die Neugier, welche die Frau im Park durch ihr flehentliches Bitten um die Aushändigung der gerade gemachten Aufnahmen in ihm erweckt, verständlich. Er wittert die Chance, die unsichtbare Authentizität der äußeren Welt durch sein Medium und dessen Möglichkeiten rückwirkend wieder transparent zu machen. Das verdächtige Verhalten seines unfreiwilligen Models verdeutlicht ihm, daß auch er dem Schein der Welt unterlegen ist, hatte er doch seiner eigenen Aussage zufolge ursprünglich den Eindruck, mit den Photos im Park einen idyllischen Moment eingefangen zu haben, der einen versöhnlichen Abschluß seines realistischen Photobandes bilden sollte. „Aus dem Paradies (die Tat geschieht in einem idyllischen Garten Eden) eines stabilen Realitätsprinzips ist Thomas als Mensch der medialen Spätmoderne [jedoch] längst vertrieben.“13 Die Linse seiner Kamera ist lange vorher schon als Zwietracht säende Schlange in dieses Paradies eingedrungen. Da seine Kamera den Schein der Welt kreieren kann, glaubt er nun, diesen Prozeß auch mit Hilfe der Kamera wieder umkehren zu können. „Antonionis style [...] specially vivid in Blow Up is that of a person looking through a key-hole, something which he has alluded to many times. It is his curiosity as to ‚what else is there, that we can’t see‘ that defines his films.“14 Die zentrale Frage aber lautet: Wie erfolgreich ist Thomas in seiner Absicht, die Oberfläche der Welt zu unterwandern, tatsächlich? Er transformiert mit Hilfe seines Mediums die vorgegebene Realität zunächst durch zeitliche und anschließend zusätzlich durch räumliche Fragmentierung. Bereits der erste Schritt dieses Versuchs der Annäherung an die Wahrheit läßt die Szene im Park sowohl für Thomas als auch für den Zuschauer in einem neuen und realistischeren Licht erscheinen. Das mag auf den ersten Blick insofern erstaunlich dünken, als man fälschlicherweise voraussetzen könnte, daß die Aufhebung der natürlichen Kontinuität dem Erfassen von Wirklichkeit eigentlich im Wege stehen müßte. Leichtfertig und vorschnell aber wäre die Annahme, daß die Photographie, da sie sich auf die Entfaltung des imaginären Raumes beschränken muß, dem Film, der in größerer Affinität zur menschlichen Wahrnehmung Raum- und Zeitgestaltung verbindet, in Bezug auf die Eindeutigkeit der Aussage unterlegen sei. Auch die chronologische Aneinanderreihung mehrerer Bilder, wie Thomas sie vornimmt, bleibt nur scheinbar naturgemäß hinter dem Wirklichkeitsanspruch einer kontinuierlichen Abbildung, wie ihn die filmische Narration evoziert, zurück. Antonioni setzt die logische Gesetzmäßigkeit, derzufolge die sukzessive Darstellungsform die auf Simultaneität reduzierte an Eindeutigkeit übertrifft, daher sehr zu Recht dialektisch außer Kraft, indem sein Protagonist die Wirklichkeit erst durch eine elliptische Rekonstruktion aus ihrer verklärten Wahrnehmung befreit. Diese aus kognitiver Sicht zunächst paradox erscheinende Möglichkeit wird auch in Julio Cortázars Erzählung Teufelsgeifer, welche die zentrale Idee für Blow-Up lieferte, angesprochen:

Ich hob die Kamera [...] und hielt mich auf der Lauer, sicher, daß ich schließlich die enthüllende Gebärde einfangen würde, den alles resümierenden Ausdruck, das Leben, dem die Bewegung erst den Rhythmus gibt, doch das ein starres Bild, indem es die Zeit zerstückelt, vernichtet, wenn wir nicht das wesentliche, kaum wahrzunehmende Bruchstück wählen. 15

Doch die zeitliche Fragmentierung allein reicht über den bloßen Verdacht nicht hinaus, weswegen einzelne Ausschnitte der Fragmente von Thomas zusätzlich aufgeblasen werden, um einen unnatürlich detaillierten Einblick in das Geschehen zu erhaschen. Julia Margarita Gerdes begreift Thomas‘ Überzeugung, sich auf diese Weise der Wirklichkeit zu nähern, jedoch als trügerisch:

Aus den Medien ist die fotografische Vergrößerung als Vehikel zur Wahrheitsfindung geläufig, spricht die Grobkörnigkeit eines Bildes doch meist für seinen dokumentarischen Charakter. [...] Dieser Erfahrung widersprechend, zeigt Antonionis Film, daß die Reproduktion und Vergrößerung von Fotografien, die ihrerseits schon Wahrnehmung gefiltert haben, nicht unbedingt der erwarteten Realitätsprüfung dienen, sie können auch einen imaginären Raum eröffnen.16

Dieser Aussage zufolge vertritt Gerdes die Ansicht, Thomas unterliege nicht zuvor im Park, sondern erst anschließend durch seine abstrakte Betrachtung einer Täuschung. Diese von erstaunlich vielen Kritikern geteilte Auffassung wird jedoch durch den Kontext des Films widerlegt. Von einem imaginären Raum kann, wie James Kendrick richtig erkennt, nicht die Rede sein:

The wordless sequence where he discovers the murder, then makes a series of blowup images so he can piece together exactly what happened, is a small masterpiece of directing and editing. Without a single word being spoken, Antonioni conveys an acute sense of discovery as he invites us to look over Thomas‘ shoulder as the murder unfolds. Afterwards, Thomas returns to the park and discovers the body, proving that he was right. The fuzzy, grainy images in the background weren’t just imagination. 17

Obschon Antonionis Kamera anders als diejenige des Protagonisten den Beweis für die Aussagekraft der Photos liefert, bleibt der Zweifel weiterhin bestehen. So fragt Brunette: „how can one of the photographs show the corpse if they are all represented in the film as being taken while the older man was still living?“18 Allein diese Behauptung hält einem genauen Blick nicht stand, denn als Thomas das letzte Photo von der panisch fliehenden Frau schießt, auf welchem er schließlich den Leichnam zu erkennen glaubt, ist ihr älterer Begleiter, der sie auffällig genug auch nicht in ihren vorangegangenen Bemühungen unterstützt hat, längst verschwunden. Er kann demnach nur während der Unterhaltung zwischen Thomas und der Frau dem Mord zum Opfer gefallen sein. Tatsächlich also rennt die Fliehende in der letzten Aufnahme an seiner Leiche vorbei. Wer die Authentizität des Mordes trotzdem anzweifelt, verkennt zwangsläufig Antonionis Intention, nämlich „die Wirklichkeit in Frage [zu] stellen, indem er sie in eine abstrakte Form goss.“19 Die Projektion von Bedeutung auf die Umwelt bedarf keiner Übertragung in ein Medium mehr. Es muß vielmehr längst der direkten Erfahrung einer bereits pervertierten Realität mißtraut werden:

Since the act of looking at these enhanced images effectively reconstructs an event that the protagonist – and the audience – never actually saw with naked eye ‚in real life‘, technology is shown to reveal a new surface of the world that is normally hidden from view. Antonioni’s own particular brand of phenomenological Neorealism is concerned primarly with the process of seeing through a camera as a way of exposing an ultimate truth, or a lack thereof, that underlines the surface of the world.20

Der Schein der Zeit dominiert das Sein. Entsprechend unterstreicht der deutliche Kontrast der erwähnten Farbdramaturgie der Parkszene und der Außenansichten von London zu den schlichten Schwarzweißaufnahmen formal den ungeschminkten Blick letzterer hinter die Kulissen:

The contrast between the bright colors of the dramatic world that Antonioni presents for us and the symbolic one which Thomas uncovers in his black-and-white photographs is itself ironic. Psychedelic colors make the ‚real‘ world of the film seem exaggerated and hyperbolic like a fantastic ‚surface‘ reality, while the ‚captured‘ and reconstructed world of the photographs appears ominously stark, grainy, and documentary-like – the bare, denuded core ‚essence‘ of reality. 21

In Blow-Up entpuppt sich die Kamera als Dechiffrierungsinstanz zwischen den Reizen der Umwelt und ihrem Empfänger: Es ist, schreibt Walter Benjamin,

eine andere Natur [...], die zu der Kamera als die zum Auge spricht. Anders vor allem dadurch, das an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. [...] Hier greift die Kamera mit ihren Hilfsmitteln, ihrem Stützen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern ein. Vom Optisch–Unbewußten erfahren wir erst durch sie, wie von dem Triebhaft–Unbewußten durch die Psychoanalyse. 22

Vor diesem Hintergrund wird im Zeitalter der medialen Entfremdung die Notwendigkeit einer Rückübersetzung der Wirklichkeit, wie sie Antonioni durch ihre räumliche und zeitliche Fragmentierung evoziert, begreiflich. Jedoch stößt Thomas mit dieser Methode an eine unüberwindliche Grenze, denn mit zunehmender Vergrößerung der Bilder verlieren sie umgekehrt proportional ihre Beweiskraft, so daß er apodiktische Gewißheit nur durch einen weiteren Besuch im Park erlangen kann. Die photographischen Bilder „funktionieren nicht als Beweis für Realität, nur als Indiz.“23 Wie nutzlos aber ist des Photographen Wissen, wenn er es nicht mit Anderen teilen kann? Bei Cortázar heißt es: „eine Wahrheit [...], die lediglich meine Wahrheit ist, [ist] somit nicht die Wahrheit“.24 Thomas allein hat den realen Mord mit Hilfe seiner Kamera dechiffriert. Ohne dieses Instrument wird Wirklichkeit längst nicht mehr wahrgenommen. Die implizite erkenntniskritische Frage lautet daher: Inwiefern hat eine Wirklichkeit, die nicht mehr wahrgenommen wird, überhaupt noch eine Seinsberechtigung? Es sei an den berüchtigten Knall erinnert, der, bis er von einem Empfänger gehört wird, nichts als bewegte Luft ist. Die Entstehung des Knalls manifestiert sich im Sinne George Berkeleys erst in seinem Wahrgenommenwerden. Nach Thomas‘ Rückkehr in sein Atelier ist einzig die letzte und gröbste Vergrößerung – eine Photographie der Photographie! –, ein unbrauchbares Indiz für die Tat, das nunmehr den abstrakten Bildern seines Freundes ähnelt, zurückgeblieben. Dieser Pferdefuß führt direkt zu Antonionis epistemologischem Ansatz, der sich hinter seiner häufig beklagten unkonventionellen Erzählstrategie sowie seiner vielfach verkannten obskuren Symbolik verbirgt und im Folgenden erörtert werden soll.

Antonionis Handlungsaufbau, der mit vertrauten narrativen Gesetzten bricht, stößt bei der Kritik erwartungsgemäß nicht nur auf Anerkennung. Indem sich die Geschichte scheinbar zufällig und fragmentarisch entwickelt, ist die sorgfältige Komposition des Plots nur schwer zu erschließen. Die eventuell im Zuschauer aufkeimende Erwartung eines bevorstehenden Suspense-Thrillers wird jedenfalls jäh enttäuscht, denn „Antonioni is not interested in the details of the murder itself, as in a typical detective story, but rather with how the protagonist’s perception of the world – and his material relationship to it – is altered by this event.“ 25 Der aus solcher Intention resultierenden vermeintlich willkürlichen Narration ist eine entsprechend radikal wirkende Symbolik inbegriffen. Indem Antonioni deren Elemente anordnet, als hätte der Würfel entschieden, schließt er zwar nicht die Möglichkeit ihrer Mißdeutung, zumindest aber die ihrer Mißachtung aus. Unausweichlich wird der irritierte Zuschauer mit einzelnen Symbolen konfrontiert, denen der Regisseur ganze Szenen widmet, die eine logische Entwicklung der Handlung scheinbar untergraben: „the story itself is not as important as a single detail which misleads us away from the main thread, and adds another.“ 26 Zudem wird jedwede Hierarchie der Wertigkeit unter den Fragmenten ausgeschlossen: „Antonioni verzichtet auf eine wertende Akzentuierung einzelner Erzähleinheiten, das Triviale scheint genauso viel Gewicht zu haben wie das Spektakuläre.“27 Darüber hinaus ist beispielsweise ein abgebrochener Gitarrenhals nicht im geringsten eindeutig symbolisch konnotiert, so daß der Zuschauer auf der Suche nach Sinn angehalten ist, die Konnotation allein aus dem Kontext des gesamten Films zu erschließen, der allerdings im Augenblick der Präsentation des Symbols naturgemäß noch nicht gegeben ist. Wohl aus diesem Grund steigen einige Kritiker, nachdem Antonioni das zunächst anvisierte Genre verlassen hat, entnervt aus der ernsthaften Betrachtung aus und unterstellen statt dessen die Sinnlosigkeit des Dargestellten: „At this point the movie is pretty interesting, but hereafter it ceases to make any sense. It’s as if the screenwriter just ran out of ideas [...] and just let the story slide into nonsense. [...] It’s really depressing, since the basic idea of the film is spicy and ingenious.“28 Ähnlich argumentiert auch Lawrence Russell, obgleich er die Erzählstrategie zumindest als formale Betonung der dargestellten Zeit gelten läßt:

There’s an improve feel to many of the scenes which reflects the mood of the times, where the formalist mores of the past were being pushed aside in favor of free-association narrative. This leads unfortunately to [...] the frustrating inclusion of several failed symbolisms which undermine the story in favour of an artistic narcissism. The photographer [...] tries to buy an antique shop [...] but comes along with a large wodden aeroplane propeller instead. While it fits in with the industrial chic of the photographer’s studio, it never fits in with the story either as text or sub-text. The same is true for the guitar neck he recovers from a scrum in a nightclub when a musician smashes his instrument in frustration and throws the pieces into the crowd. Like much of the dialogue, there’s an attempt at some sort of ellipsis – the sort of ghost narrative of absurdist theatre – but the enigma is more false than intellectual, more infantile than mystical.29

Russells Klassifizierung von Blow-Up als Beispiel für die radikale ästhetische Moderne, die sich durch assoziative, absurde, arbiträre und infantile Obskurität auszeichnet, verkennt indes sowohl Antonionis indirekte Hinwendung zur Erzählung als auch seine raffinierten Prinzipien medialer Selbstreflexivität – beides untrügliche Zeichen der sich bereits ankündigenden Postmoderne. Andere sind Russell in ihrer Schlußfolgerung weit voraus, da sie, wenn auch die Funktion der einzelnen Symbole im Gesamtkontext des Films eher vage begriffen wird, wenigstens eine semantische Verbindung derselben untereinander feststellen:

At the concert, [...] [Thomas] competes frantically with a mob of hysterical fans to retrieve a broken guitar neck as a kind of prize or souvenir but immediately discards it once he is outside again. Along with the procurement of the propeller or, even earlier, the anti-nuclear protest sign that he mounts in the back of his convertible before it falls out onto the street and is run over, this last incident may be Antonioni’s Marxism speaking again about the folly of impulse purchases and the vanity that people often project onto useless, decorative objects, as well as how they lose interest in them once their instant cachet of newness wears off. This seems to refer back to an earlier scene in the film, when the old man at the antique shop refuses to sell Thomas any of his wares [...] – suggesting that there are some things in this world that money can’t buy.30

Solche partiellen Interpretationen aber müssen sich, wie Eco insistiert, in ihrem Anspruch auf Haltbarkeit an der Totalität beweisen.31 Es dürfte indes schwerfallen, zu leisten, was der Kritiker hier versäumt, nämlich seine These des Marxismus mit dem Mord im Park und der Photographie desselben in eine sinnhafte hermeneutische Ordnung zu bringen. Wer die überfällige semantische Verifikation der zahlreichen symbolischen Szenen leisten will, sollte den durch Thomas‘ Aufnahmen gegebenen epistemologischen Hinweis freilich nicht übersehen. Vor dessen Hintergrund sollen nunmehr das Antinuklear-Plakat, der Propeller, der abgebrochene Gitarrenhals, die albern sich gebärdenden Mädchen, die Thomas in seinem Atelier aufsuchen, und das Tennisspiel ohne Ball und Schläger revidiert werden. In letzterem bietet sich insofern ein Ausgangspunkt der Betrachtung an, als in der Pantomime der Rag-Studenten eine den Film abschließende hermeneutische Integrationsszene gesehen werden kann.

Nachdem der Protagonist nunmehr zum dritten Mal den Park aufgesucht hat, um die Leiche mit seiner Kamera letztlich doch noch beweiskräftig festzuhalten, ist auch diese Spur wie zuvor die Bilder aus seinem Atelier verschwunden.

Instead, he finds the Rag celebrants engaged in an imaginary game of tennis and this pantomime brings together all that had been previously hinted at in the film. The camera pans back and forth, following the imaginary ball [...]. Here, we see how the camera creates an illusion by suggesting the presence of an object that is not there. If the ball does not exist, than perhaps the body in the photographs – which was represented by the same camera movement – never existed either. 32

Obschon diese Deutung der Funktion der pantomimischen Schlußszene übergeht, daß sowohl der Zuschauer als auch der Protagonist die Leiche im Park tatsächlich gesehen haben, was für den imaginären Tennisball nicht zutrifft, wird sie vielfach vertreten:

Wenn Thomas in der letzten Szene auf die Tennis–Pantomime eingeht und die Ballgeräusche zu hören meint, wird das Spiel mit Wahrnehmungsmechanismen dies einzige Mal eindeutig: Der Zuschauer dringt in den Hörraum von Thomas ein, erkennt aber, daß die Figur einer Halluzination erliegt. Verwirrung ist die Folge: Hatte man im Verlauf der Erzählung mehrmals Anteil an visuellen Sinnestäuschungen des Fotografen? War die Entdeckung des Mordes nur eine Phantasie, vielleicht Effekt seiner sichtbaren Ermüdung? Der Film verweigert klare Zuordnung, verwischt die Grenzen zwischen Tag- und Traumsphäre.33

Die asynchronen Geräusche des Tennisspiels müssen aber mitnichten als akustische Halluzination des Protagonisten interpretiert werden. Versteht man sie statt dessen als bewußt etablierten Bruch mit der ontologischen Ebene des fiktionalen Geschehens, d.h. als ‚Verfremdungseffekt‘, der den Zuschauer aus seiner Illusion reißen und zur direkten Reflexion zwingen soll, spricht gerade diese Szene gegen eine Deutung, derzufolge Wirklichkeit in Blow-Up als „ein System von subjektiven Eindrücken [...] und nur dem als real [erscheint], der zwischen Beobachtung und Einbildung nicht mehr unterscheiden kann.“34 Dem Bemühen, in der Summe der narrativen und symbolischen Details des Films im Sinne Schleiermachers eine semantische Totalität, d.i. eine sinnstiftende Ordnung des Films, zu erschließen und somit dem ‚hermeneutischen Zirkel‘ Rechnung zu tragen, kann dagegen ausgerechnet Brunette mit einer akzeptablen Deutung der Schlußszene beitragen. Indem er das in Blow-Up präsentierte Realitätsbild als grundsätzlich kollektives Konstrukt versteht, revidiert er selbst seine eingangs zitierte Behauptung, wonach Antonionis inhaltliche Hinwendung zur Beziehung zwischen einem Individuum und der Realität zugleich eine Abkehr von seinen vorangegangenen filmischen Studien interpersonaler Beziehungen bedeute. Nun ist beides untrennbar miteinander verwoben, und man bekommt eine Ahnung von der Totalität, die Voraussetzung für das Verständnis der Details ist:

it is not that reality has no meaning; rather, its meaning is always social [...] determined. Thus, by participating in the celebrated ball-less game of tennis with the mimes at the end, Hemmings can be seen as shaking off his narcissism (which actually amounts, in the epistemological context of the film, to a kind of solipsism), by implicitly admitting that reality is always unconsciously constructed, and constructed socially, that is along with other human beeings. Anything can mean anything, anything can stand for or represent anything else, anything can be anything, but only to a group, never to an individual (at least not for long). Once Hemmings accepts the authority of this group to name meaning and thus configure reality, he can ‚find‘ and return the ball to them. 35

Bezeichnenderweise legt er zuvor seine Kamera, die nicht in der Lage war, innerhalb der Sozietät Realität zu behaupten, ins Gras. Brunettes scharfsinnige Schlußfolgerung entpuppt sich tatsächlich als archimedischer Punkt der gesamten Handlung. Aus dieser Perspektive wird auch deutlich, warum Thomas seinen Freund überreden will, ihm in den Park zu folgen, um die Leiche zu sehen:

Again, it is a question of shared social reality, as with the mimes‘ tennis game [...]; since reality is constructed intersubjectively, this external verification is crucial for the photographer [...]. When Hemmings realizes that his friend is completely stoned, and thus not a good candidate for the intersubjective verification he seeks, he replies, out of frustration, but significantly, that he saw ‚nothing‘. 36

In diese Lesart lassen sich schließlich die zahlreichen symbolischen Szenen des Films hermeneutisch einreihen: Als Thomas von den Antinuklear–Demonstranten ein Protestschild aufgedrängt wird, ist er sofort und nicht ohne Begeisterung bereit, es an seinem Auto zu befestigen. Kaum hat er die Gruppe, innerhalb derer das Schild Bedeutung trägt, verlassen, weht es aus dem offenen Wagen und wird von einem anderen überrollt, was Thomas offensichtlich nicht im Mindesten interessiert. Nachdem er den ehedem für ein Flugzeug bestimmten Propeller erworben hat, erkennt seine Besucherin, daß er in seiner neuen Umgebung Teil des Designs von Thomas‘ Studio werden und somit, indem er die geraden Linien der Räumlichkeit ausbalanciert, neue kontextuelle Bedeutung gewinnen kann, die mit seiner ursprünglichen Funktion nichts mehr gemein hat. Ebenso erlangt auch der Gitarrenhals, um den Thomas mit vollem Körpereinsatz kämpft, seine Bedeutung nur innerhalb seines Kontextes, nämlich der Fangemeinde:

all reality and all meaning are achieved contextually, by means of the frame around a given bit of reality [...]. Once Hemmings is out of the club, out of the meaning-giving context, he realizes that the broken piece has absolutely no value whatsoever, and tosses it away. Emphasizing the point, another man comes along, picks it up, examines it quizzically, and then throws it away again.37

Auch das unterwürfige Verhalten der beiden Mädchen, die alles tun würden, um von Thomas photographiert zu werden, erklärt sich aus dem soziologischen Umstand, daß die Bedeutung der Welt auf ihr Abbild reduziert worden ist. Nicht zufällig arrangiert Antonioni das bunte Treiben auf einem abgerissenen Karton, der zuvor als Hintergrund für Photographien diente. Erst das Bild ihrer Person belegt die eigene Existenz, und dessen Reproduzierbarkeit potenziert im Sinne einer quantitativen Erweiterung des interpersonalen Kontextes ihre Persönlichkeit. Vor diesem Hintergrund sozialer Wirklichkeitskonstruktion läßt sich die Annahme, die plötzlich hörbaren Geräusche des pantomimischen Tennisspiels seien eine Halluzination des Protagonisten, welche die Evidenz vorangegangener Szenen in Frage stelle, überzeugend korrigieren: „Here the inherent (but usually disguised) split between the visual and aural track that marks all films is used expressively, in this case, [...] to imply that membership in the meaning-giving group is always open to us as well.“ 38 Gleiches erreicht Antonioni zuvor, als der Zuschauer, während er zusammen mit Thomas die entscheidenden Bilder betrachtet, den Wind wie bereits im Park nun in den Blättern der abgebildeten Bäume rauschen hört. Suspense liegt in der Luft. Der Zuschauer selbst wird qua Rezeption gleichsam in die Handlungsebene integriert und zu einer für Thomas unerreichbaren intersubjektiven Bestätigung. Diesem Konzept der zwischenmenschlichen Realitäts- und Bedeutungsbildung, die außerhalb ihres sinngebenden Rahmens hinfällig wird, ist auch die Verbindung zwischen der Kamera des Photographen und der Kamera des Regisseurs kompatibel: „Hemming’s still camera and the movie camera used to make the film that the audience is watching are directly linked, visually and physically, as well as thematically.“39 Am offensichtlichsten etabliert Antonioni eine solche in ihrer formalen Konsequenz bestechende Verbindung, wenn die Filmkamera beim ersten Photoshooting die von Thomas gemachten Aufnahmen mittels diverser Jumpcuts imitiert. Durch diese Annäherung an die Kamera des Photographen wird beider konstruktives Moment visualisiert und auf die ontologischen Ebenen der fiktionalen Handlung einerseits und der Perzeption des Films andererseits verteilt. Wenn Thomas mit Hilfe seiner Photographien das Geschehen im Park rekonstruiert, hilft Antonionis Kamera dem Zuschauer, ihm auf diesem Weg zu folgen: „The director’s camera plays upon the surface of the photographs, making us aware of their artifice yet at the same time animating them so that they assume a life of their own.“40 Indem sie nicht nur den Blick des Photographen nachahmt, sondern darüber hinaus per Zoom auch eine der natürlichen Wahrnehmung widersprechende Annäherung an die Bilder zeigt, wird die Verbindung beider Kameras gefestigt. Der zur Überwindung der Scheinwirklichkeit als Notwendigkeit begriffene Konstruktivismus des Mediums wird während des pantomimischen Tennisspiels am deutlichsten. Dort demonstriert die Kamera des Regisseurs jenen Prozeß der medialen Wirklichkeitskonstruktion, den der Photograph, der von Berufs wegen aktiv an demselben beteiligt ist, mit seiner Kamera vergeblich intersubjektiv umzukehren versucht hat:

The camera ostentatiously participates in this construction of meaning from the beginning of this scene, when it ‚follows‘ the arc of the invisible ball through the air, over the fence. The camera then comes to rest at a specific point in the grass, implying that even if we cannot see anything there, the camera does, or better, it puts it there, through its very act of attention.41

Durch ihre Unterstützung der Pantomimen setzt Antonionis Kamera den Geist der medialen Spätmoderne, in der das Bild der Wirklichkeit durch sein technisches Abbild überlagert worden ist, formal um. Sie bestätigt durch ihre direkte Partizipation am Tennisspiel, wie Bedeutung kontextuell entsteht. Zusammen mit den Rag–Studenten und Thomas sieht sie, was der Zuschauer de facto nicht sehen kann. Im Augenblick als Thomas seine Kamera ablegt und den imaginären Ball zurückwirft, senkt er nachdenklich den Blick. Es hat den Anschein, als habe er begriffen, daß sein Medium zum Konstrukt einer neuen Wirklichkeit, dem er mit bloßem Auge selbst unterliegt, entscheidend beigetragen hat und nun nicht mehr fähig ist, diesen Prozeß auf sozialer Basis umzukehren, da sich alles Sein durch seine Perzeption erst eigentlich konstituiert. Was nicht wahrgenommen wird, ist nicht länger. Die Pantomime bestätigt, daß die gemeinschaftliche Wahrnehmung nicht zwingend an objektive Wirklichkeit gekoppelt sein muß. Durch Antonionis konstruktive Kamera kann der Zuschauer diese Einsicht teilen.

The crucial presence of the cinematic codes [...] is further, and wittily, underlined when the photographer suddenly disappears in a jump cut [...], just before we read ‚The End‘. This technique reminds us that the photographer is not a real person, but a fictional character, a graphic mark, a made-up ‚sign‘ for the purposes of the film, which the director can now decide playfully to delete if he chooses. We are also forcefully made aware of the presence of the director, of a controling hand, an other, outside the confines of the story and the film itself.42

Wenn Antonioni mit der Ontologie der Handlung durch den abschließenden Hinweis auf seine Präsenz hinter den Kulissen absichtlich bricht, ‚outet‘ er seinen Film metapoietisch als Teil jenes Systems, das derselbe fiktionalisiert.

So fügen sich schließlich alle Teile, namentlich die Geschichte des Mordes und seiner Entdeckung, die scheinbar willkürlich aneinandergereihten symbolischen Szenen sowie die zahlreichen dem Brechtschen Verfremdungseffekt nicht unähnlichen Brüche mit der Ontologie der fiktionalen Ebene zu einer harmonischen Totalität, offenbaren in ihrem Zusammenspiel die latente Bedeutung und strafen die bequeme Behauptung der Sinnlosigkeit Lügen. Nach vorangegangener Interpretation kann abschließend festgestellt werden, daß Antonioni mit Blow-Up seiner intentionalen Tradition insofern treu bleibt, als er Wirklichkeit als intersubjektives Konstrukt begreift. Die aus seinen früheren Filmen vertraute Verfremdung der Menschen untereinander bleibt als Konsequenz der gemeinschaftlichen Verfremdung der äußeren Wirklichkeit bestehen. Das vom Diktat des expliziten Scheins geprägte London der sechziger Jahre ist für diese Aussage geradezu prädestiniert. In Affinität zu den artifiziellen Wegen der Pop-art, die ihrerseits durch Fragmentierung, Vergrößerung und Verfremdung zeitgenössische Lebenswirklichkeit auszudrücken wußte, konfrontiert Antonioni den Zuschauer mit einer Welt, deren Anspruch auf Sein sich allein im Grad ihrer Wahrnehmbarkeit offenbart. Das cartesianische ‚Cogito‘ wurde durch das spätmoderne ‚Percipior‘ längst widerlegt. Antonionis Intention scheint allerdings weniger, diese veränderten Konditionen des Seins zu kritisieren, als sie vielmehr mit ästhetischen Mitteln als etwas Unumgängliches zu offenbaren und in dieser Offenbarung exemplarisch zu demonstrieren, daß sich der Mensch – wie Thomas in der Schlußsequenz – diesen Bedingungen anzupassen hat. Seine Genialität besteht darin, diese erkenntnistheoretische Intention durch eine von höchster Kunstfertigkeit geprägte ikonische Komposition zu vermitteln. Blow-Up zählt nicht zu jenen Filmen, deren Bilder lediglich die Aufgabe haben, die sich im Dialog der Protagonisten oder gar im Monolog einer Voice-Over entfaltende Geschichte zu untermauern. Die Aussagekraft des Wortes bleibt vielmehr abgeschlagen hinter der des Bildes zurück. Da die bildkompositorische Symbolik schlicht keiner ergänzenden Worte bedarf, vermitteln sich die entscheidenden Schlüsselszenen mühelos nonverbal. Diese zwischen Regisseur und Zuschauer etablierte Kinesik ist das eigentliche kinematographische999 Verdienst Antonionis. „Watching ‚Blow Up‘ gives me a very good sense of what I think cinema is really about: telling a story with pictures.“43 Die traurige Tatsache, daß Antonionis Sprache der Bilder bei vielen Kritikern auf blinden Unverstand stößt, ist der Intention des Films bereits inhärent, denn auch die Grenze der künstlerischen Möglichkeit, die Oberfläche der konstruierten Wirklichkeit zu unterwandern, wird letztlich nur durch den Grad ihrer interpersonalen Wahrnehmung bestimmt. Indem die Kritik diese Möglichkeit nicht annimmt, beschränkt sie sich selbst auf die oberflächliche Perspektive der Gesellschaft, an der auch Thomas im Bestreben, die Wahrheit intersubjektiv zu bestätigen, scheitert. Antonionis individuelle Bildsprache, die sich als Spagat zwischen Moderne und Postmoderne erwiesen hat, impliziert, wie Roland Barthes in seiner Laudatio zum Ausdruck bringt, eine semantische Ambivalenz, die Unverständnis und Mißdeutung nolens volens begünstigt: „Sie zwingen [...] [den Sinn] nicht auf, aber Sie heben ihn auch nicht auf. Diese Dialektik gibt Ihren Filmen [...] eine große Subtilität: Ihre Kunst besteht darin, den Weg des Sinns immer offen zu lassen [...]. In diesem Punkt erfüllen Sie genau die Aufgabe des Künstlers, den unsere Zeit braucht: weder dogmatisch noch unbestimmt zu sein.“44


Fußnoten

  1. 1 Bernd Kiefer: Michelangelo Antonioni. In: Thomas Koebner (Hg.): Filmregisseure. Biographien, Werkbeschreibungen, Filmographien. Stuttgart: Reclam 1999, S. 35-42, hier S. 40.
  2. 2 Peter Bondanella: Italian Cinema. From Neorealism to the present. New York: Continuum 1990, S. 222.
  3. 3 Peter Brunette: The Films of Michelangelo Antonioni. Cambridge: University Press 1998, S. 109f.
  4. 4 Mharward: Review of Blow-Up. Antonioni’s English-speaking classic. In: http://www.epinions.com/mvie-review-B94-A684725-392DD6E6-prod1, S. 1.
  5. 5 Kiefer, Antonioni, S. 40.
  6. 6 Claudia Lenssen: Blow-Up. In: Peter W. Jansen / Wolfram Schütte (Hg.): Michelangelo Antonioni. Reihe Film 31. München: Hanser 1984, S. 171-181, hier S. 172.
  7. 7 Marli Feldvoss: Tatorte der Schönheit. Die Wiederaufführung eines Filmklassikers: „Blow-Up“ von Michelangelo Antonioni. In: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2000/0621/none/0304/index.html, S. 2.
  8. 8 Kiefer, Antonioni, S. 40.
  9. 9 Ebd.
  10. 10 Julia Margarita Gerdes: Blow-Up. In: Thomas Koebner (Hg.): Filmklassiker. Band 3. Stuttgart: Reclam 1998, S. 80-88, hier S. 87.
  11. 11 Brunette, Films, S. 110.
  12. 12 Gerdes, Blow-Up, S. 80f
  13. 13 Kiefer, Antonioni, S. 40.
  14. 14 Pedro Sena: Blow-Up. In: http://www.imdb.com/Reviews/124/12422, S. 1.
  15. 15 Julio Cortázar: Teufelsgeifer. In: Ders.: Südliche Autobahn. Die Erzählungen. Band 2. Übers. v. Rudolf Fries, Wolfgang Promies u. Rudolf Wittkopf. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 379-393, hier S. 386.
  16. 16 Gerdes, Blow-Up, S. 86f.
  17. 17 James Kendrick: Blow-Up. In: http://ofcs.rottentomatoes.com/click/movie-1002673/reviews.php?critic=movies&sortby=default&page=1&rid=193820, S. 1.
  18. 18 Brunette, Films, S. 122.
  19. 19 Feldvoss, Tatorte, S. 2.
  20. 20 Filmlover (Pseudonym): A psychedelic murder mystery and a disturbing parable about the limits of perceptual reality. In: http://www.epinions.com/content_36339486340, S. 3.
  21. 21 Ebd., S 1.
  22. 22 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 36.
  23. 23 Lenssen, Blow-Up, S. 171.
  24. 24 Cortázar, Erzählungen, S. 380.
  25. 25 Filmlover, Reality, S. 1.
  26. 26 Sena, Blow-Up, S. 1.
  27. 27 Gerdes, Blow-Up, S. 87.
  28. 28 Aeschines: Review of Blow-Up. This movie blows. In: http://www.epinions.com/content_36599729796, S. 1f.
  29. 29 Lawrence Russell: Blow-Up. In: http://www.celebritywonder.com/movie/1966_Blow-Up.html, S. 1.
  30. 30 Filmlover, Reality, S. 6.
  31. 31 „Eine partielle Textinterpretation gilt als haltbar, wenn andere Textpartien sie bestätigen, und sie ist fallenzulassen, wenn der übrige Text ihr widerspricht.“ Umberto Eco: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Übers. v. Hans Günter Holl. München: dtv 1996, S. 73.
  32. 32 Filmlover, Reality, S. 7.
  33. 33 Gerdes, Blow-Up, S. 86. Auch Peter Bondanella begreift das Spiel der Rag-Studenten als visualisierten Beleg für den zuvor nur imaginierten Mord: „The director and his audience need not misconstrue the enlargement’s significance any more than they need be convinced of the reality of the game of tennis at the close of the film.“ Bondanella, Italian Cinema, S. 225.
  34. 34 Gerdes, Blow-Up, S. 86
  35. 35 Brunette, Films, S. 117.
  36. 36 Ebd., S. 121.
  37. 37 Ebd., S. 117.
  38. 38 Ebd.
  39. 39 Ebd., S. 111.
  40. 40 Filmlover, Reality, S. 3.
  41. 41 Brunette, Films, S. 118.
  42. 42 Ebd.
  43. 43 Previousman (Pseudonym): Review of Blow-Up. Your eyes will burn. In: http://www.epinions.com/mvie-review-7E25-16473EDD-3963F90C-prod5, S. 2.
  44. 44 Roland Barthes: Weisheit des Künstlers. In: Peter W. Jansen / Wolfram Schütte (Hg.): Michelangelo Antonioni. Reihe Film 31. München: Hanser 1984, S. 65-71, hier S. 66.